Vorwort

Bis heute, über 80 Jahre nach dem Tod des letzten Kaisers von Österreich und apostolischen Königs von Ungarn, Königs von Böhmen etc. etc., gibt es keine wissenschaftlich fundierte Biographie von Karl I (IV.) und keine ausführliche Darstellung vom Ende des Habsburgerreiches. [i]

Man identifizierte die Thematik von Land und Herrschaft mit der Geschichte des Ersten Weltkriegs, dessen Akten, Pläne und Strategien die Kriegsarchive füllen und über den österreichische Militärhistoriker von heute–davon ausgenommen die Untersuchungen über das Nationalitätenproblem in der k.u.k. Armee und die Arbeiten Peballs [ii]–nicht sehr viel mehr auszusagen wissen als ihre Kollegen aus den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts.[iii] Generäle, Generalstabsoffiziere und Archivare, die den Ersten Weltkrieg überlebten, hatten ihre bis jetzt nicht überholten Kriegsgeschichten in den Jahrzehnten zwischen den beiden Weltkriegen, deren innerer Zusammenhang allmählich offenbar wird, verfaßt[iv]. Motiv der Konfrontation mit den Ereignissen, die den „Untergang des Abendlandes“, „Das Ende der Neuzeit“ und die Analogie mit der „Völkerwanderung“ signalisierten, war die Suche nach den Ursachen des verlorenen Krieges. Man analysierte die Fehler, die zur Niederlage der Zentralmächte führten, erforschte die Kriegsschuld und reflektierte die Katastrophe, den Zerfall der monarchischen Systeme in Mittel–oder Zentraleuropa. Als Militärhistoriker arbeiteten sie an der Überlieferung der welthistorischen Ereignisse, zur Rechtfertigung der geschlagenen Armeen, zur Aufklärung derer, die  unter der Schmach der Diktatfrieden von St. Germain und Versailles litten und zur Information kommender Generationen. Trotz des Strebens nach Objektivität und Fairness gegenüber den ehemaligen Feinden ist ihre Verteidigungsabsicht nicht zu verkennen.

Die Überlieferung vom Ende des Habsburgerreiches und vom im Exil verstorbenen Kaiser und König verharrte im Raum der Künstler,[v] in der habsburgischen Familientradition und in Memoiren. Sie wurde von Journalisten, Pamphletisten und Panegyrikern transportiert und von jenen an die Macht gelangten, die meinten, ihren Aufstieg der historischen Gerechtigkeit, der Bestrafung der schuldbeladenen Vorgänger, zu verdanken.[vi] Es gibt bis jetzt keine zusammenfassende Untersuchung zur Friedenspolitik des jungen Kaisers,[vii] zu seinem Verhältnis zu den Päpsten, speziell zu Benedikt XV., zur Beziehung von Staat und Kirche in Österreich–Ungarn am Ende des “Konstantinischen Zeitalters”. Man beharrt auf den demagogischen Urteilen über Sixtusbriefe und Sixtusaffaire,die weder von Prinz Sixtus selbst noch von den Herausgebern einzelner Dokumentenausgaben vollständig geklärt wurden.[viii]

Zur Verteidigung der österreichischen Historiker des 20. Jahrhunderts sei vorgebracht, daß die Fülle und Vielfalt historischen Materials in allen am Ersten Weltkrieg beteiligten Staaten von einem einzelnen kaum zu übersehen ist. Die Archive in Österreich und in den Nachfolgestaaten der Monarchie waren zerstreut, Staatspapiere zum Schutz in privaten Nachlässen geborgen oder deportiert. Verschiedene Archive waren geschlossen, manche sind es bis heute. Man arbeitete nicht an Dokumentenausgaben sondern hauptsächlich am Detail,[ix] dessen Synopse schwierig ist. Verschiedentlich versuchten sich Kollegen aus dem ehemals feindlichen Ausland an Rekonstruktionen,[x] Historiker aus den Sukzessionsstaaten stellten einzelne Perspektiven zum Thema dar,[xi] solche in kommunistischer Unterdrückung und Gefahr waren gezwungen, ihre wissenschaftlichen Ergebnisse mit marxistischen Doktrinen und Schlüssen zu verdecken, um überhaupt verlegt zu werden.[xii] Die Beiträge im großen Werk “Habsburgermonarchie”, herausgegeben von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, als Teamwork von Historikern aus dem Raum des ehemaligen Österreich–Ungarn und von internationalen Spezialisten verschiedenartig nebeneinander präsentiert, enden meist mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914, hin und wieder 1916/17.[xiii]

Mit der Vertreibung und Dethronisation des Herrscherhauses waren auch die Papiere des letzten Kaisers verschwunden. Kaiserin Zita konnte sie bewahren und in ihrem Alterssitz, dem St. Johannesstift in Zizers bei Chur, ordnen. Bis heute sind sie Historikern nicht zugänglich, ähnlich wie die Dokumente der Prinzen Sixtus und Xavier von Bourbon von Parma. Gordon Brook–Shepherd, Erich Feigl und Tamara Griesser–Pecar durften einzelne Stücke aus dem Archiv der Kaiserin (heute: PAH) einsehen und verarbeiten. Ihre Präsentation bleibt mehr oder weniger im Rahmen des wissenschaftlichen, popular–oder pseudowissenschaftlichen Journalismus, ihre Ergebnisse sind weder vollständig, noch überprüfbar und mit der Summe zugänglicher Dokumente konfrontiert. Die Benützung und Überlieferung von Bearbeitungen, die verschiedentlich wieder gekürzt wurden, verfälschten Ereignisse z. T. inhaltlich und auch im Zusammenhang, oft zum Nachteil des Toten von Madeira.[xiv]

Die innerhabsburgische Tradition von Persönlichkeit, Regierung und Schicksal des letzten Kaisers fand ihren Niederschlag in den Büchern von Polzer–Hoditz, Werkmann,  Boroviczény, Zessner–Spitzenberg und Thanner,[xv] wie in Zeugenaussagen für den römischen Beatifikatikonsprozeß, in der Causa Caroli a (e) domo Austrie. Nach der Wiederaufnahme des laufenden Verfahrens durch die vatikanische Heiligsprechungskongregation (Congregatio pro Causis Sanctorum) konnten sie von der 1986/87 gebildeten internationalen Historikerkommission eingesehen werden. Die Verfasserin hatte sie als Mitglied dieser Kommission erstmals wissenschaftlich benützen, verarbeiten und publizieren können.[xvi] Die historiogaphische Untersuchung der Papiere des Schriftenprozesses führte schließlich zur Vorbereitung jener Dokumentenausgabe, die als Band zwei dem vorliegenden Werk angefügt ist.[xvii] Die politischen Dokumente Kaiser und Königs Karls I.(IV.) aus internationalen Archiven sind die Basis, von der aus die historiographische Rekonstruktion von Regierungszeit, Asyl und Exil Karls I (IV.) versucht, die Reaktion des Kaisers und Königs auf politische und militärische Ereignisse erfaßt werden sollte. Seine Entscheidungen und Aktionen waren im Zusammenhang mit Politik, Strömungen und Bewegungen der Zeit zu studieren, seine Bindung an und seine Abhängigkeit von der multinationalen Bevölkerung des Habsburgerreiches zu beleuchten. Gesichtspunkte, die ein objektives Bild des von der Propaganda Entstellten, Verfemten und für den Untergang des Habsburgerreiches verantwortlich Gemachten ermöglichen, die ihm sachlich gerecht werden und Schicksal und Standort des heutigen Österreich bestimmen. Die Darstellung folgt der chronologischen Ordnung des neuen Materials, das im System der Habsburgermonarchie die Verbindung von Land und Herrschaft überliefert, die Bezüge von Innen–und Außenpolitik, von Zentrum und Peripherie des Reiches herstellt, das Thema von der subjektiven Traumatisierung wie von der politischen Verhetzung der Besiegten löst. Es werden auch die Gegner und ihre Standpunkte, unter ihnen solche aus dem eigenen Reich, gezeigt . In diesen Längsschnitten, die Überschneidungen erfordern, wird nicht Kriegsgeschichte neu betrieben, wenngleich sie von der Thematik weder auszuschließen noch zu abstrahieren ist. Die militärischen Ereignisse sind auf dem heutigen Forschungsstand präsentiert und mit der Überlieferung des Kaisers ergänzt oder korrigiert.[xviii]

Die Diplomatiegeschichte der Jahre 1916–1922 ist ein der Kriegsgeschichte ähnlich vernachlässigtes Terrain. Die Rekonstruktion der österreichisch–ungarischen Außenpolitik erfolgte mit Hilfe von vorliegenden internationalen Dokumentenausgaben. Sie beanspruchte zusätzliche Archivrecherchen. Forschungen in russischen Archiven unterblieben; die einschlägigen Ereignisse sind im wesentlichen bekannt.

Es bleibt von mir zum Schluß noch der Dank an Fürst Albrecht von Hohenberg für die Erlaubnis, den Nachlaß von Eh Franz Ferdinand, an Dipl.–Ing. Alexander Graf Pachta–Reyhofen, Greffier vom Orden des Goldenen Vlies, das Vliesarchiv im Wiener Haus–Hof–und Staatsarchiv benützen zu dürfen, an Dr. Ernst Ritter von Rutkowski für die Möglichkeit, Materialien aus seinem in Vorbereitung befindlichen dritten Band von Briefen und Dokumenten aus dem “Verfassungstreuen Großgrundbesitz”[xix] zu verarbeiten, an Dr. Franz von Boroviczény für die kathographische Skizze des Zweiten Restaurationsversuches, wie an die Damen und Herren des Österreichischen Staatsarchives. Meiner Mitarbeiterin, Dr. Lotte Wewalka, die mir bei dieser komplizierten und schwierigen Arbeit vom ersten bis zum letzten Moment unermüdlich, freundschaftlich und loyal beistand und Dr. Franz Pichorner (jetzt KHM Wien), der nach Abschluß des Forschungsprojekts noch letzte Korrekturen erledigte, habe ich besonders und sehr herzlich zu danken.

Herr emer. Univ.–Prof. Dr. Fritz Fellner hatte sich schon seit mehreren Jahren für diese große Arbeit interessiert und sie gemeinsam mit emer. Univ.–Prof. Dr. Helmut Rumpler  der Kommission für neuere Geschichte Österreichs für ihre Veröffentlichungen empfohlen. Ich danke den beiden Herren für ihre kollegialen Bemühungen wie dem Verlag Böhlau für die sorgfältige Drucklegung.

 

[i] Die Arbeit von R. Lorenz aus 1958 kompiliert zeitgenössische Zeitungsberichte und damals greifbare Literatur. Der Vf benützte auch einige wenige Dokumente aus dem Haus- Hof- und Staatsarchiv in Wien. Er verarbeitete nicht damals bereits greifbare Dokumentenausgaben und veröffentlichte sein Werk ohne Anmerkungen. Sie sollten später herauskommen, erschienen aber niemals. Das Buch von Broucek, Karl I.(IV.) wurde auf ähnlich selektierter Grundlage erstellt, sein Vf versuchte mit historischen Deduktionen die eigentliche Forschung zu ersetzen. Vgl. Dazu die Rezension von Alexander Demblin.
[ii] Plaschka–Haselsteiner–Suppan, Innere Front, 2 Bde
[iii] Rauchensteiner, Tod des Doppeladlers, passim  Tirol und der Erste Weltkrieg; Forschungsüberblick von Jerabek: Der Erste Weltkrieg, 953-969.
[iv] ÖUlK, 1-7; Glaise–Horstenau, Katastrophe, passim.
[v] siehe die Arbeiten von Hans Fronius, Alfred Kubin, die Lithographie von Hannes Scheucher, Herrscher im Martyrium, den Roman von Felix Braun, Agnes Altkircher oder Das Ende des Reiches; Heimito von Doderer, Strudelhofstiege, Dämonen; Hofmannsthal, Wildgans, Zweig.
[vi] Die Werke Otto Bauers, Beneš und  Masaryks; Nowak, Weg in die Katastrophe, Rede Renners vor der Konstituierenden Nationalversammlung vom 27. März 1919: Fischer (Hrsg.), Renner, 151 – 156.
[vii] Details dazu in den Dokumentenpublikationen von Steglich , Scherer – Grunewald und Engel – Janosi.
[viii] Vgl. dazu unsere Kapitel VI und XVIII.
[ix] siehe u.a. die Arbeiten von Broucek, Fellner, Jedliczka, Plaschka, Rauchensteiner, Rill, Rumpler, Suppan.
[x] z.B. Leslie, Shanafelt, Valiani.
[xi]  u.a. Bogdan,Hadler, Hanak, Mamatey, Zeman.
[xii] Gonda, Siklós, Pölöskei.
[xiii] Haburgermonarchie, I–VII.
[xiv] Hier sind die Bücher Werkmanns, besonders seine von Kaiserin Zita autorisierteBearbeitung des Tagebuches von Kaiser Karl über den ersten Restaurationsversuch („Aus Kaiser Karls Nachlaß“) zu erwähnen. Brook Shepherd stützte sich auf Werkmann, ebenso Feigl, der ihn gekürzt verarbeitete. Vgl. UR, Nr. 237.
[xv] Hanns Karl Zessner- Spitzenberg, Kaiser Karl. Aus dem Nachlaß, hrsg. von Erich Thanner, Salzburg 1953; vgl. dazu auch : Franz Pichorner, Auswahlbibliographie zu Kaiser Karl von Österreich: Die Stille Schar. Jahrbuch der Gebetsliga 1992, Lilienfeld 1992, 10 -30.
[xvi] Kovács, Krönung und Dethronisation, dies., Papst Benedikt XV.; dies., Kaiser Karl und die Bischöfe.
[xvii] vgl. dazu die Einführung von Untergang oder Rettung der Donaumonarchie?
[xviii] vgl. dazu bes. UR Nr. 213.
[xix] Briefe und Dokumente zur Geschichte der österreichisch – ungarischen Monarchie unter besonderer Berücksichtigung des böhmisch – mährischen Raumes, Teil I und II: Der Verfassungstreue Großgrundbesitz 1880 – 1899, 1900 – 1904. Ausgewählt, eingeleitet und kommentiert von Ernst Rutkowski, München 1983 und 1991 (= Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, 51/1, 51/2)