Kapitel XXIII – ECKARTSAU

Seit dem Abend des 12. November 1918 lebte die kaiserliche Familie mit kleinster Suite im Jagdschloß Eckartsau bei Wien, bis 21. November noch von den Leibgarden bewacht, danach von Wiener Polizeibeamten. Der Kaiser war ein Gefangener auf seinem Privatbesitz. Aufgeregtes hungriges Volk, demobilisierte Soldaten, Volkswehrleute, Terroristen wilderten in seiner Jagd, sie kamen bis an die Gitter des Schloßparks, der unübersichtlich und schwierig zu bewachen war. In der nachlassenden Nervenanspannung erkrankte der Kaiser an schwerer Grippe.
Der noch amtierende österreichische Vatikanbotschafter Prinz Johannes Schönburg–Hartenstein bemühte sich in der Schweiz unter Berufung auf den Entschluß des Papstes , den Kaiser “[…]vor der herankommenden Flut zu retten[…],”die Briten zu motivieren, dem Habsburger seinen Thron zu lassen, damit er sich dem Bolschewismus entgegen stemmen könne. Lord Acton verwies ihn auf die Friedenskonferenz. Verschiedene Mitglieder des Hochadels suchten in der Schweiz und in Dänemark nach Mittelsmännern zur Entente, um die Monarchie in Österreich zu retten.
Sondierungen für das Asyl der kaiserlichen Familie liefen vom 11. bis 21. November, am 19. November 1918 schaltete sich Otto Bauer ein. Er wollte den Kaiser in die Schweiz abschieben; er sollte das Land verlassen, entweder aus eigenem oder auf Anordnung der Regierung. Die schweizerische Bundesregierung, immer auf ein gut nachbarliches Verhältnis bedacht, sagte zuerst Einreise–und Aufenthaltserlaubnis für den Kaiser und für einige Diener zu, eine Woche später nahm sie wieder alles zurück, man sprach nur noch von einer Durchreiseerlaubnis und von der Möglichkeit eines Aufenthaltes der kaiserlichen Familie in Spanien. Schließlich lehnte der schweizerische Bundesrat das Asyl ab, auch für die Erzherzöge. Die Schwierigkeiten der holländischen Regierung mit Kaiser Wilhelm II. mahnten zur Vorsicht.
Der scharfe Propagandakrieg der sozialdemokratischen Arbeiterzeitung gegen Monarchen und Dynastie hatte vor dem 11. November 1918 eingesetzt, er dauerte bis zur Ausreise der kaiserlichen Familie in die Schweiz. Die “roten” Journalisten unterschoben dem Kaiser die Abdankung, sie forderten seine Auswanderung und übergossen die Habsburger mit Haß und Polemik. Nach dieser publizistischen Vorbereitung soll–wir folgen Schager von Eckartsau–in der geheimen Staatsratssitzung vom 23. Dezember 1918 (recte 20. Dezember) beschlossen worden sein, den Kaiser, würde er nicht formell abdanken, als vogelfrei zu erklären. In der ersten Jännerwoche 1919 erschien dann Staatskanzler Renner in Eckartsau, um den Kaiser zu Abdankung und Ausreise in die Schweiz zu bestimmen. Entgegen Renners eigenen Aussagen empfing ihn der Kaiser nicht. Renner erhielt vom einem Tafeldecker einen Imbiß vorgesetzt und trachtete im Gespräch mit dem Flügeladjutanten von Schonta “[…] alles anzubringen, was der Kaiser hören sollte. Es war im Grunde ein sanftes Drängen zur Abreise. Rührende Rücksicht auf die Gesundheit des Monarchen, der die feuchte Luft der Auen nicht zuträglich sein könne, war der Auftakt des Gespräches und ernste Befürchtungen vor unvorhergesehenen Handlungen unüberlegter Elemente das Fortissimo[…].”
Der Kaiser reflektierte in Eckartsau über die vergangenen Ereignisse, er beschäftigte sich mit Gültigkeit und Konsequenzen seiner Verzichtserklärung, an die er sich, weil unter Zwang unterzeichnet, nicht gebunden fühlte. Eine Restauration seiner Herrschaft könnte nur als habsburgische Donaukonföderation innerhalb der noch bestehenden Strukturen erfolgen.
Im Hinblick auf den 16. Februar 1919, dem Tag der Wahlen zur konstituierenden Nationalversammlung, bereitete der Wiener Kardinal einen Hirtenbrief der Erzbischöfe und Bischöfe Deutschösterreichs zu den brennenden Fragen de Zeit vor. Mit den anderen übereinstimmend, äußerte sich Piffl positiv zur Staatsform der Republik. Die Kirche sei nicht notwendig mit der Monarchie verbunden, Katholiken könnten auch die Republik akzeptieren. Die Fahnen dieses Hirtenschreibens gelangten–vermutlich über den Hofbischof Dr. Ernest Seydl–in die Hände des Kaisers. Sofort wandte er sich an den Kardinal und ersuchte ihn, die Katholiken Österreichs durch die Priester zu beeinflussen, ein christliches und monarchisches Wahlergebnis zu erzielen. Die österreichische Kirche würde ohne Monarchie bald zugrunde gehen, was die bereits erlassenen kirchenfeindlichen Gesetze der revolutionären Regierung anzeigten.(Ehe–Gesetzgebung, Gestatten der Freimaurerei etc.) Der Kaiser bestätigte dem Kardinal, nie als rechtmäßiger Herrscher Österreichs abgedankt zu haben, er werde auch niemals abdanken. Seine Verzichtserklärung sei erpreßt, er nicht daran gebunden, dieselbe Feststellung machte der Kaisers gegenüber Papst Benedikt XV.
Dieses Dementi hatte auf Inhalt und Publikation des gemeinsamen Hirtenbriefes, der am 23. Jänner 1919 von den Kanzeln Deutschösterreichs verlesen wurde, keinen Einfluß mehr. Der Kardinal sprach über die Probleme von Krieg und Frieden, über die Schmach der Niederlage, die getragen werden müsse und über ihre Ursachen. Der verlorene Krieg resultiere aus einer Politik ohne Moral, die christliche Gebote aus Parlamenten und Diplomatenstuben verbannt hätte. Allegorisch beschrieb der Kardinal die Situation des Kaisers als eines kraftlosen Adlers, der an den Fängen beschnitten, in ein Nest von Nattern, Unken und Schlangen gefallen war. Seine Schwingen wären gelähmt, sein Schnabel sei gebrochen. Die Bischöfe riefen die Katholiken zur Mitarbeit am Aufbau einer glücklicheren Zukunft für Gesellschaft und Vaterland auf und legitimierten ihre Auffassung zu Obrigkeit und Staatsform mit dem Römerbrief des Apostels Paulus (Röm 13, 1–7) wie mit der Enzyklika “Immortale Dei” Papst Leos XIII. von 1885. Die Teilnahme des Volkes an der Regierung könne “[…]nicht nur zum Nutzen der Bürger beitragen, sondern auch die Pflicht derselben sein.[…]Die Behauptung also, die Kirche gönne den Staaten ihre neue Ordnung nicht, ist unbegründet und leere Verleumdung.[…]” Der Kaiser selbst hätte den Österreichern das Selbstbestimmungsrecht gegeben und die derzeitigen Volksvertreter mit der Neuordnung der staatlichen Verhältnisse betraut, sie sei rechtmäßig erfolgt, was der Kaiser bestritt. Im Gegensatz zur Behauptung der Verfassungshistoriker Brauneder und Lachmair , der Monarch habe mit seiner Verzichtserklärung Thron und monarchisches Prinzip der Legitimität aufgegeben, bestätigte der zeitgenössische Verfassungsjurist Hans Kelsen die Rechtsansicht des Kaisers von der Ungültigkeit seiner Verzichtserklärung und den revolutionären Akt der deutschösterreichischen Staatsgründung: Auch das Tagebuch des ehemaligen Handelsministers Friedrich von Wieser dokumentiert den Konsens damaliger Minister und Staatsräte mit dem Kaiser über die Proklamation vom 11. November 1918. Der Kaiser verzichtete weder auf Amt noch auf Rechte, er zog sich nur von der Geschäftsführung zurück. Karl Renner bestätigte dieses Faktum am 27. März 1919, als er vor der Konstituierenden Nationalversammlung die Ausweisung des Kaisers und der kaiserlichen Familie aus Deutschösterreich mit dem Provisorium der Verzichtserklärung und mit der nicht erfolgten Abdankung begründete.
Dagegen leitete Piffl pragmatisch aus der kaiserlichen Ohnmacht die Rechtmäßigkeit der Republikserklärung Deutschösterreichs ab: Der Kardinal forderte die Katholiken zur Ausübung ihres Wahlrechtes auf und popularisierte seine Vorstellung von der Katholischen Autonomie im Fall einer Trennung von Staat und Kirche. Der christliche Staat sei trotz der sozialdemokratischen Forderungen nach freier Schule und freier Ehe zu bewahren.
Mitte Jänner, als in Ungarn die kommunistische Agitation voll einsetzte, und Karel Kramar, jetzt tschechoslowakischer Ministerpräsident, einem bolschewistischen Attentatsversuch in Prag entkommen war, wurde die Lage der kaiserlichen Familie ungemütlich.”[…]Um Eckartsau schloß sich immer enger der Würgering roter Gesinnung[…]Vor Gewalt hatten wir keine Angst, aber die Übergriffe des Pöbels begannen an der Würde zu rühren.[…]” Doch der Kaiser wollte im Land bleiben. “[…]Es wurde den Bürgern von Eckartsau gedroht,[…]die Roten würden ihnen den roten Hahn aufs Dach setzen, wenn ich noch länger bleibe. In dieser Not erschien der rettende Engel, der englische Oberst. […]” Er “[…]hieß Summerhayes und war, was wir einen Oberststabsarzt nennen; seine Aufgabe bestand, außer unserem Schutz darin, über meinen Gesundheitszustand–ich hatte gerade die Grippe überstanden–den Engländern zu berichten und zu melden, ob ich trinke. Also das Gerücht war schon bis nach England gedrungen.[…]Die Österreichische Regierung war über die Entsendung des englischen Obersten sehr entrüstet, sie glaubte nicht, daß die Mission unpolitisch und nur eine Maßnahme für meinen Schutz sei. Otto Bauer äußerte sich:< Wenn die Engländer den Kaiser schützen wollen, so sollen sie ihn zu sich nach England nehmen>, und die Sozis sannen auf Rache, wie, wird man später sehen.”[…]So Kaiser Karl.
Am 20. Jänner, am 1. und 14. Februar hatten die Regierungen von Rom, Paris und London die Nachricht vom Mordplan am österreichischen Kaiserpaar aus Konstantinopel und Saloniki erhalten. Prinz Sixtus erfuhr davon in Paris: er intervenierte bei Poincaré und erreichte beim englischen Königspaar den Schutz der britischen Militärmission für die kaiserliche Familie in Eckartsau König Georg V. hatte ein schlechtes Gewissen: seitdem er im Sommer 1917 auf Wunsch der britischen Regierung seine Bereitschaft, den russischen Verwandten aufzunehmen, zurückgezogen hatte, lastete der Mord an der Zarenfamilie auf ihm.
Am 20. Februar 1919 stellte Sir Thomas Montgomery–Cun(n)ingham den Colonel John Summerhayes vom Royal Army Medical Corps, bis damals mit der Evakuierung von Kriegsgefangenen aus Deutschland und Österreich befaßt und von 15 britischen Soldaten in Wien ausgewählt, dem Kaiser in Eckartsau vor. Die Situation war tatsächlich brisant; die zunehmend vom Kommunismus erfaßten Ungarn, wollten die tschechische Besetzung der Slowakei nicht dulden, General Piccione und die tschechischen Legionären aus Preßburg vertreiben. Die Region zwischen Donau und March war bedroht, zwei Bataillone der Volkswehr, mit Kommunisten durchsetzt, waren in Hainburg und Großenzersdorf über Tag stationiert, die Nächte verbrachten sie in ihren eigenen Wohnungen. Cun(n)ingham hatte Otto Bauer vor seinem Besuch in Eckartsau informiert; der Staatssekretär für Äußeres konnte es nicht glauben, daß irgend ein Österreicher dem Kaiser etwas zu leide tun würde. Polizeipräsident Schober, dessen 10 Detektive Eckartsau bewachten, wußte sehr wohl von einem Komplott.
Unmittelbar nach den Wahlen vom 16. Februar 1919, die 72 Sozialdemokraten, 69 Christlichsoziale und 26 Abgeordnete deutschnationaler Gruppierungen, einen Tschechen, einen bürgerlichen Demokraten und einen Zionisten in die Konstituierende Nationalversammlung delegierten, wandte sich der Kaiser wieder an Kardinal Piffl. “[…]Lassen Sie recht viel beten, den Gläubigen muß Patriotismus und Loyalität gepredigt werden, es muß jetzt klar und deutlich gesagt werden: Wir wollen eine Monarchie, denn Thron und Altar sind untrennbar verbunden.[…]” Der Kardinal war längst anders entschieden. Die Ratlosigkeit in den Kreisen der in einen monarchistischen und einen republikanische Flügel zerfallenen Christlichsozialen, war sehr groß. Scharf kritisierte der Kaiser ihr Verhalten:”[…]Die Christlichsoziale Partei soll sich ermannen und soll wenigstens gegen Absetzung, Ausweisung etc. stimmen, denn wenn die Absetzung einstimmig beschlossen wird, ist eine Restauration sehr schwer möglich. Ich habe dies nur geschrieben, damit ich nicht durch Unterlassung einer Warnung etwas versäumt hätte, was mein Gewissen zeitlebens schwer belastet hätte.[…]” Die deutschösterreichische Regierung teilte bereits am 19. Februar 1919 Oberst Cun(n)ingham mit, daß sie einen Wechsel der Residenz des Kaiserpaares in ein anders Land wünsche: Julius Deutsch, Sprecher der Sozialdemokraten, forderte die Abdankung des Kaisers.
Am 22. Februar 1919 reiste Oberstleutnant Edward Lisle Strutt zum Schutz des österreichischen Kaiserpaars von Venedig auf Umwegen über Agram und Laibach nach Wien. Der schottische “Ehrenkavalier” war dem britischen Außenamt direkt unterstellt und außer der Kompetenz von Oberst Cun(n)ingham. Unmittelbar nach seinem Dienstantritt in Eckartsau ersuchte ihn Kaiserin Zita, ihrem vierten Kind, Erzherzog Felix, damals dreijährig, wegen schwerer Unterernährung die Ausreise in die Schweiz zur der Herzogin von Parma, ihrer Mutter, zu ermöglichen, was Strutt eine Woche später bewerkstelligte. Der “Ehrenkavalier” unternahm das Möglichste, das Leben der kaiserlichen Familie zu verbessern, Lebensmittel zu beschaffen und das Jagdschloß sicherer zu machen. Er sondierte bereits am 02. März 1919 die Reise der Habsburger in die Schweiz. Für Unterstaatssekretär Earl Curzon of Kedlestone war es unmöglich, die Reise des Kaisers durch sein eigenes Land in die Schweiz durch die Britische Regierung zu garantieren. Sollte sein Leben in Gefahr sein und er sich selbst der Gnade der britischen Regierung ergeben, bestünde aus politischem Gesichtspunkt kein Einwand, ihm bis zur Grenze die Reise zu erleichtern.
Das Tauziehen um Ausreise und Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz dauerte drei Wochen. Der Kaiser selbst wollte weder das Land verlassen noch abdanken Deshalb drohte die deutschösterreichische Regierung mit dem Dethronisationsgesetz und mit seiner Ausweisung, für den Fall, daß er nicht freiwillig das Land verließe, mit Internierung. Da das Kaiserpaar weder in Deutschland noch in Italien bleiben konnte, kam als Aufenthaltsort nur die Schweiz in Frage. Sie forderte von der britischen Regierung ein Aufnahmegesuch, was gegen deren Prestige war. Schließlich wurde das Problem am 12. März vor dem interalliierten Kriegsrat in Versailles diskutiert; Lloyd George ergriff für den Kaiser von Österreich Partei: Er betonte, der junge Kaiser wäre für den Krieg nicht verantwortlich; er hätte ihn geerbt und sein Bestes getan, um aus ihm herauszukommen, wenn auch auf sehr unbeholfene Weise. Er wäre mit großer Brutalität behandelt worden und sei in Lebensgefahr. Sein Aufenthalt in der Schweiz wäre dem in einem anderen alliierten Land vorzuziehen. Man sollte der österreichischen Regierung helfen, die bereit wäre, mit den britischen Militärautoritäten zu kooperieren, seine Flucht vor der Einführung des Gesetzes seiner Absetzung und Verbannung vorzubereiten. Die Diskussionen zeigten klar, daß die Alliierten nicht beabsichtigten, Kaiser Karl zu bestrafen. Balfour wurde gebeten, den Botschafter in London konfidentiell zu ersuchen, Gastfreundschaft zu gewähren und zu versichern, daß die Schweiz keine Schwierigkeiten bekäme, würde sie den Kaiser von Österreich aufnehmen. Jetzt war sie bereit, dem Kaiser von Österreich als “Flüchtling und Privatperson” die Aufenthaltserlaubnis zu geben. Die britische Regierung befahl Oberst Strutt , den ” Ex–Kaiser” unverzüglich aus Österreich herauszubringen, und seine Abreise in die Schweiz zu beschleunigen. Kaiser Karl stimmte schließlich unter der Bedingung, nicht abdanken müssen, zu.
Bourcart hatte richtig vermutet: Der Kaiser werde sich der Abreise widersetzen, un die Möglichkeit der Restauration nicht zu gefährden.[…]” Die Stimmung in Wien, Cun(n)ingham hatte die einst so lebensvolle, elegante Hauptstadt zu Weihnachten 1918 als ” tote Stadt” erlebt, war nicht vom Sozialismus oder Kommunismus entflammt, weder klassenkämpferisch noch revolutionär. Die Menschen hungerten in tiefster politischer Depression. Adelige Kreise strebten ins Ausland, bürgerliche zogen sich zurück, verstört über die Militärkommissionen, betroffen von der Schmach der Niederlage. Die Angst vor dem Putsch linker Kräfte lag in der Luft, genährt von Arbeitslosigkeit und Lebensmittelnot, vom Verhalten der Volkswehr, der Roten Garden, vom Überfall auf politische oder auch religiöse Veranstaltungen, vom Überspringen des bolschewistischen Funkens aus Ungarn. Wie dort planten auch in Wien ehemalige Offiziere konterrevolutionäre Maßnahmen. Der Großteil der Wiener Arbeiterschaft bekannte sich zu einem gemäßigten Sozialismus, Gefahrenquellen war jene Kriegsgefangenen aus Rußland, die als Kommunisten heimkehrten. Nach Bourcarts Berichten vom Dezember 1918 trauerten die Wiener dem Glanz der ehemaligen Reichs–und Residenzhauptstadt nach. Sie waren durchaus für die Habsburger, wenn auch nicht für Kaiser Karl. Der Propagandakrieg hatte seine gesamte Popularität vernichtet, doch anderen Habsburgern, wie Erzherzog Eugen, gab man Chancen für eine monarchische Restauration wie für die Errichtung einer Donaukonföderation. Soweit als möglich gut informiert, versuchte Kaiser Karl, die Länder der ehemaligen Doppelmonarchie durch Interventionen in Frankreich und Großbritannien vor dem Bolschewismus zu schützen, Lebensmittelhilfe zu erhalten und den Plan einer habsburgischen Donaukonföderation zu forcieren. Er erkannte die bolschewistische Gefährdung Europas und schlug vor, Frankreich und England mögen mit verläßlichen Persönlichkeiten aus Ungarn und Österreich verhandeln, Wien und Budapest mit Entente–Truppen besetzen. Vorschläge, die auch vom Wiener Polizeipräsidenten Johannes Schober, wie von diversen ausländischen Diplomaten kamen. Nach Henri Allizé, dem französischen Sonderdelegierten in Wien, plante Lloyd George Ende Jänner 1919 bolschewistische Delegationen zur Friedenskonferenz nach Paris einzuladen. Eine amerikanische Delegation war bereits zum Studium der Situation in Moskau: Also war es inopportun, im ehemaligen Österreich–Ungarn Ententetruppen zu stationieren.
Verschiedene Mitglieder des Allerhöchsten Hauses wollten, daß der Kaiser abdanke, nicht jedoch das Land verließe: Die Erzherzöge Eugen, Max und Albrecht forderte ihn vor seiner Abreise auf, die Konsequenzen aus dem Manifest vom 11. November zu ziehen und für die ganze Monarchie abzudanken. Er sollte den Titel Herzog von Lothringen annehmen und in den alten Erbländern bleiben. So wäre die Monarchie am leichtesten zu restaurieren. Erzherzog Albrecht fragte, ob vielleicht der Kronprinz in Österreich bleibe. (“[…]dieser Ausspruch war um so befremdender, als damals viel über Ottos Scheinkaisertum unter Erzh[erzog] Eugens Vormundschaft gesprochen wurde[…]”)Der Kaiser beharrte auf der Ausreise unter englischem Schutz; er gestand den Erzherzögen zu, aus ihrem Vorgehen keine Konsequenzen zu ziehen und die ganze Sache geheim zu halten. Trotzdem versuchten sie nochmals, ihn zur Abdankung zu motivieren. Sie ließen im Ministerium des Äußeren und des kaiserlichen Hauses von einem “Individuum” ein Abdankungsmanifest verfassen und es durch Schager nach Eckartsau bringen. Der Kaiser zerriß das Papier, ohne es gelesen zu haben. Aus der Retrospektive der Schweiz verteidigte er seinen Entschluß. Wäre er im Land geblieben, hätte ihn die Mehrzahl der Gutgesinnten verachtet, ihre Bemühungen um eine Restauration wäre ohne sichtbares Ideal gewesen.”[… ] Ich sehe dabei von höheren Beweggründen ab, wie, daß man die Krone, die von Gott verliehen ist, auch festhalten muß.[…]” Sechs Mitglieder der Familie gaben die staatliche Loyalitätserklärung ab und traten aus dem Erzhaus aus.
Schließlich hatte Oberst Strutt im mutigen Alleingang bei Renner die würdige Ausreise des Kaisers ohne Abdankung durchgesetzt. Er hatte mit der Einstellung der britischen Lebensmittellieferungen für Wien gedroht und Renner, der dem Kaiser das Verlassen des Landes ohne Abdankung, “Körpervisitation” und Durchsuchung seines Gepäcks verwehren und ihn internieren wollte, in die Knie gezwungen. Damals soll der Staatskanzler sogar um die Besetzung Wiens durch britische Truppen ersucht haben, was Otto Bauer kurz nach Ausrufung der Räterepublik in München, am 11. April 1919, energisch dementierte.
Am selben Sonntag, dem 23. März 1919, als in Budapest die Massen frenetisch die Gründung der ungarischen kommunistischen Räterepublik feierten, nahm der Kaiser Abschied von Österreich.”[…]Ich bestellte mir noch Teile meiner Umgebung zum Abschied hinaus. Es erschienen Arz, alle Flügeladjutanten, Nagy von der Kabinettskanzlei, Zeidler etc. es war Sonntag. Der Schullehrer spielte in der Schloßkapelle zum Schlusse der Messe das . Ich hörte damals die so schönen Klänge zum letzten Male in Österreich. Alle Augen wurden feucht. Am Vormittag empfing ich auch die Vertreter und die Pfarrer der umliegenden Gemeinden, alle erklärten mir zum Schlusse unter Tränen Ich verabschiedete mich von der braven Polizei und [von] der ganzen Dienerschaft. Vor der Abreise gab uns Bischof Seydl den Reisesegen und wir fuhren auf den Bahnhof Kopfstätten. Eine große Menge war dort angesammelt, um uns Lebewohl zu sagen. Es waren Bauern, schön decorierte Soldaten, einige Beamte der Herrschaft. Als der Zug sich in Bewegung setzte, läuteten die Glocken wie bei einem Kaiserbesuch in normalen Zeiten, und die ganze Bevölkerung rief < Auf baldiges Wiedersehen !>[…]”
Am 24. März 1919 passierte der kaiserliche Sonderzug gegen drei Uhr nachmittags Feldkirch, um 03 Uhr 48 Uhr war er in Buchs an die Schweizer Grenze. Wir folgen dem Bericht Dr. Borsingers, Sekretär im Politischen Departement der Eidgenössischen Konföderation; er hatte das Kaiserpaar im Namen der Schweizerischen Regierung zu empfangen. In Buchs warteten auf dem von Militär abgesperrten Bahnhof die Prinzen Felix und René von Bourbon–Parma. Oberst Bridler begrüßte das Kaiserpaar im Namen des Bundesrates, Dr. Borsinger im Namen des Bundespräsidenten. “[…]Der Kaiser und die Kaiserin waren sichtlich bewegt und zeigten sich tief erkenntlich für das Entgegenkommen der Schweiz in dieser für sie so schwierigen Zeit[…]”. Dr. Borsinger teilte dann dem Flügeladjutanten Graf Ledóchowski die Bedingungen des Bundesrates mit, welche sich an den Aufenthalt der kaiserlichen Familie knüpften, und der Graf versicherte, der Kaiser würde sie ohne weiteres akzeptieren, was er nach Rücksprache mit dem Kaiser bestätigte. Der Zug war aus Buchs abgefahren.”[…] In Staad war die Herzogin von Parma am Bahnhof; der Kaiser verließ den Zug in Zivil, während er in Buchs noch die alte Uniform eines Infanteriegenerals mit goldenem Vliess und goldener Tapferkeitsmedaille getragen hatte.[…]” Die Schweizer Automobile standen für die kurze Fahrt nach Wartegg zur Verfügung”[…]Mit Ausnahme des Obersten Strutt und des Grafen Ledóchowski, welche sich im zu Rohrschach einquartierten, nahm alles in Wartegg Wohnung; der Zug […]kehrte selbigen Abends nach Österreich zurück.[…]”
Vor seiner Abreise wollte sich der Kaiser mit einem Manifest an die Bevölkerung wenden. Angesichts der Ereignisse in Ungarn ersuchte ihn Kardinal Piffl , auf die Veröffentlichung zu verzichten, um den Kommunismus in Österreich nicht zu fördern. So schickte Kaiser Karl das Manifest erst Tage nach seiner Ankunft in der Schweiz nur an Papst Benedikt XV. und König Alfons von Spanien.
Das Feldkircher Manifest ist ein feierlicher Protest gegen alle Maßnahmen der deutschösterreichischer Regierung, der Provisorischen wie der Konstitutionellen Nationalversammlung, weil sie seine Herrscherrechte verletzten, auch ein Protest gegen die für die Zukunft angekündigte Landesverweisung der Habsburger. Es unterstreicht die Illegitimität der Republikserklärung Deutschösterreichs vom 12. November 1918. Sie sei unter dem Druck der Straße, von unberufenen Repräsentanten, die aus dem alten Reichstag hervorgegangen waren, erfolgt und basiere nicht auf dem Willen des gesamten Volkes. Auch die Beschlüsse der Konstitutionellen Nationalversammlung seien ungültig. Unter Terror erlassen und für die deutschösterreichische Nation nicht repräsentativ, verletzten sie das Selbstbestimmungsrecht der Völker und hätten keine Kraft zu binden. Eine willkürlich zusammengesetzte Volksvertretung eines Staates ohne Grenzen und Staatsform habe sich angemaßt, für einen völkerrechtlich noch nicht existierenden Staat zu entscheiden. Solche Beschlüsse seien für den Kaiser und für sein Haus ungültig.
Mit dem Verlassen von Eckartsau anerkenne er keineswegs die Entwicklung , welche die Rechtskontinuität unterbrach. Von der Staatskorrespondenz außerhalb der Gesetze gestellt verließe er das Land, um Deutschösterreich die Schmach zu ersparen, “[…]daß sein legitimes Staatsoberhaupt mit den Seinen einer Woge preisgegeben sein solle, gegen die derzeit kein Damm besteht.[…]”
Parallel dazu widerrief er als König von Ungarn seinen Verzicht vom 13. November 1918. Er hätte ihn nur unterschrieben, um die definitive Absetzung des Herrscherhauses zu vermeiden. Die Erklärung der ungarischen Volksrepublik sei ohne Volksabstimmung erfolgt, die Entscheidung des Volkes präjudiziert. Der König stellte sich mit diesem Widerruf auf die Grundlage der ungarischen Verfassungsgesetze vor dem November 1918.
In Wien bildeten sich seit dem 24. März 1919 Soldaten–und Arbeiterräte, Bourcart erwartete den bolschewistischen Umsturz in 10 bis 12 Tagen. Vor diesem Hintergrund rechnete der Staatskanzler Renner am 27. März 1919 im Parlament mit dem Haus Österreich ab. Er kündigte das in Begutachtung befindliche Habsburgergesetz , den “offiziellen Abschied Deutschösterreichs vom Haus Habsburg” an. Renners Rede war in ihrer Form moderater als die Proklamation der Tschechen vom 18.Oktober 1918, mit der sie die Fesseln sprengten, die sie an das Haus Habsburg ketteten, inhaltlich war sie ähnlich agressiv und haßerfüllt.
Nach dem Überblick über das Entstehen der kaiserlichen Verzichterklärung und über die darauf folgenden Ereignisse, bezeichnete Renner das Vorgehen der deutschösterreichischen Regierung gegen Kaiser Karl als Reaktion auf die “monarchistischen Umtriebe” im Ausland. Der Staatskanzler sprach von seinem Besuch in Eckartsau, von den Schwierigkeiten mit der Schweiz und identifizierte die Entscheidung der Konstituante für die Republik als unmittelbares Plebiszit. Der Kaiser wollte dieses Volksvotum nicht akzeptieren . Im Interesse der ” Konsolidierung des Freistaates” müßte er eine ausdrückliche Verzichtserklärung für seine Person wie für das Haus und dessen Mitglieder abgeben und dann das Land verlassen. Denn “[…]nur eine Übersiedlung des ganzen Erzhauses außerhalb der Grenzen von Deutschösterreich kann eine Beruhigung und Sicherheit gewähren[…].” Renner kam auf das Interesse der britischen Regierung für die Sicherheit des Kaisers zu sprechen, welche von der deutschösterreichischen Regierung niemals beeinträchtigt worden wäre. Auf Intervention der britischen Regierung–ohne Information der deutschösterreichischen–werde dem Kaiser “[…]beziehungsweise dem Erzhaus eine Unterkunft in der Schweiz gewährt” Obwohl sich die Regierung wegen der kaiserlichen Renunziation an die britische Militärmission gewandt hätte, verließ der Kaiser das Land, ohne ” eine Renunziationsakte zurückzulassen.” Wegen dieses “Ausfalls”, zur Sicherung der staatsrechtlichen Verhältnisse und der gesamten Rechtslage der Republik, würde das Ausweisungsgesetz beschlossen.
Daneben nannte Renner noch andere Ursachen für das Gesetz: den Widerspruch zwischen der Volkssouveränität, als Grundlage des “Freistaates” und dem Gottesgnadentum (der “[…]historischen Gewalt, welche sich Majestätsrechte und Herrschaftsansprüche beilegt.[…]”), wie die Angst vor Restaurationsversuchen. Mit Rücksicht auf die benachbarten Nationalstaaten sei es “[…]die nackteste Selbstverständlichkeit, daß dieser offene und lebendige Widerspruch aus der Welt geschafft werde[…]. “Die Anwesenheit der Habsburger in Österreich sei eine Gefahr für die Sicherheit der Bürger im eigenen Land. Denn nicht alle Bürger könnten den Wandel der Zeit so rasch mitvollziehen, einzelne wären vor “[…]für sie selbst verhängnisvollen Experimenten […] “(=Restaurationsbewegungen) zu schützen, die materiellen Ansprüche auf die Wiederkehr der monarchischen Institutionen für Deutschösterreich wären eine ganz unerträgliche materielle und moralische Belastung.
Die Landesverweisung sei für das gesamte Erzhaus wegen dessen Einheit und wegen der Sukzessionsberechtigung eines jeden einzelnen Mitglieds nötig, auch, um Prätendentenansprüche auszuschalten.
Die Übernahme des höfärarischen Gutes und der fideikommissarischen Vermögen ins Staatseigentum rechtfertige sich aus deren öffentlichem Zweck. Im Vergleich zur Tschechoslowakei und zu Ungarn würde die deutschösterreichische Regierung milder und schonender vorgehen, denn diese Nationalstaaten hätten nicht nur das hofärarische und fideikommissarisch gebundene sondern sämtliche, auch individuelle Privatvermögen “[…]kurzerhand beschlagnahmt und sich zugeführt[…].” Alle anderen Nationalstaaten hätten Deutschösterreich präjudiziert.”[…]Wir folgen ihnen also hinten nach und wir brechen kein Recht irgendeines der Sukzessionsstaaten, wenn wir dasselbe tun, worin sie uns vorgegangen sind[…] .”Höfärarisches und fideikomissarische Vermögen der Habsburger würden nicht ausschließlich dem Staatsschatz einverleibt, Reinerträgnisse daraus auch den Kriegsbeschädigten gewidmet, zur Sühne “[…]für einen nach unser aller Empfinden mutwillig im Interesse des Erzhauses vom Zaune gebrochenen Krieg[…]. ”
Renner plädierte für die Habsburgergesetze als ” granitene und unzerstörbare Grundlage” der Volksfreiheit. Sie erfüllten das ” Gesetz der Zeit”. Denn auf dem gesamten Festland seien die meisten Dynastien republikanischen und demokratischen Einrichtungen gewichen: Ein Volk, das sich der vollen Freiheit erfreue, werde nicht zu Institutionen zurückkehren, “[…]die im letzten Grunde doch auf mittelalterlichen Vorstellungen ruhen.[…]”
Abschließend erklärte Renner, der angeblich über Vergangenes nicht richten wollte, das Haus Habsburg habe das Gesetz der Zeit erfüllt, sich ausgelebt und überlebt. Eine Bindung an die Vergangenheit, die begraben sei, wäre in der Zukunft, der man sich zuwenden wolle, nicht möglich. Hatte Clemenceau in seinem Entwurf für die Präliminarfriedenskonferenz das “Nichtmehr–Existieren” des Habsburgerstaates festgestellt, hatte Renner die politische Todeserklärung der Habsburger vorgenommen, des “offenen und lebendigen Widerspruchs”, der aus der Welt zu schaffen war. Seine Absage an die österreichische Geschichte war ohne Begriff von Gesetz und Wirkung historischer Tradition. Eine Woche später, am 03. April 1919 wurde das Habsburgergesetz auch mit den Stimmen der Christlichsozialen im Parlament beschlossen. Es hob für immerwährende Zeiten Herrscherrechte und Prärogativen des Hauses Habsburg–Lothringen und all seiner Mitglieder auf, erklärte Verträge über den Anfall von Herrscherrechten als ungültig, verwies den ehemaligen Träger der Krone und jene Mitglieder des Hauses, die nicht ausdrücklich auf ihre Herrschaftsansprüche verzichteten und sich als getreue Staatsbürger der Republik bekannten, des Landes. Es verbot den Gebrauch von Titeln und Anreden , die mit der Bestimmung des § 1 im Widerspruch stünden, erklärte dem Kaiser geleistete Eide als unverbindlich, hob Privatfürstenrechte auf und verwies auch das Haus Bourbon–Parma des Landes.
Vierzehn Tage danach, am Gründonnerstag, dem 17. April 1919, erlebte Wien den von Ungarn gelenkten kommunistischen Putsch. Nachdem die britische Militärmission dem Staatssekretär Deutsch mit der Einstellung der Lebensmittellieferungen und Henri Allizé von der französischen Militärmission Renner und Bauer mit der tschechischen Besetzung Wiens gedroht hatten, wurde der Putsch von Volkswehr Bataillonen und Polizei niedergeschlagen. In Wien war die Kopie des Musters von St. Petersburg, die Verwandlung des Putsches in Revolution, mißglückt.