KAPITEL XIX – KRISE

(HERBST 1917 – SOMMER 1918)

Am 28. September 1917 berichtete der Schweizer Botschafter Charles Daniel Bourcart vom täglich zunehmenden Antagonismus zwischen Deutschen und Tschechen in Österreich. Ministerpräsident Seidler könne nur die rein politischen Diskussionen und den Krieg der Parteien verhindern, man sei in einer latenten fortdauernden Krise und nahe daran zu verzweifeln. Selbst eher optimistisch zitierte Bourcart von Tschirschky, den ehemaligen deutschen Botschafter in Wien: “[…]Österreich kann man vielleicht mit einem alten Haus vergleichen, dessen Mauern überall Risse zeigen und man erwartet, es einstürzen zu sehen. Dennoch widersteht seine Konstruktion all diesen Gewitterstürmen und Erdbeben besser als gewisse Neubauten, die aus weniger gutem Material errichtet sind[…].”
Der Krieg stellte zweifellos die Existenz Österreichs in Frage: Würde er den multinationalen Staat auflösen, die einander bekämpfenden Nationen isolieren, oder sie als souveräne Nationalstaaten in einer Donaukonföderation unter Habsburgs Zepter verbinden?
Am 30. Mai 1917 zeigten sich nach der Eröffnung des Reichsrates die inneren Probleme, die unter Franz Joseph verdrängt und unterdrückt worden waren, deutlich. Der Verlauf der Russischen Revolution, das Überspringen ihres Gedankengutes auf Österreich–Ungarn zerstörte die bürgerlichen Fassaden. Der Ruf nach dem Kriegsende war unüberhörbar und Kaiser Karl auch zu einem ehrenhaften Friedens bereit. Die Ursachen der gescheiterten Gespräche haben wir vielfach erörtert: Auf Seiten der Zentralmächte verhinderte der Wahn des deutschen Imperialismus und die wirtschaftliche, militärische, zum Teil ideologische Abhängigkeit Österreichs von Deutschland den Frieden. Auf Seiten der Entente agitierten die Massonen gegen einen “übereilten” und “unreifen” Frieden. Sie beeinflußten Journalisten und Politiker, gewiß den Präsidenten der USA, Woodrow Wilson.
Demokratisierungstendenzen und Nationalitätenprobleme bedrohten die innere Balance der Donaumonarchie. Der Kompromiß von monarchischem Prinzip (monarchischer Legitimität) und Volkssouveränität von 1867 stand zur Disposition. Die Völker verlangten mehr staatliche Rechte, sie forderten den Umbau des alten Hauses.
Seit 1867 ist in Österreich der Reduktionsprozeß kaiserlicher Prärogativen (Vorrechte) zu beobachten. Bezogen sie sich bis dahin auf Außenpolitik, Kirche und militärische Gewalt, verminderten sie sich bis zum Ausbruch des Weltkrieges auf das Kommandorecht des Kaisers, das Kriegserklärung und Friedensschluß implizierte, auf die ihm gebührende Exekutivgewalt und das Berufungsrecht ins Herrenhaus. Aus einstigen kaiserlichen Räten, Ratsgremien und Ständevertretungen war schließlich der Reichsrat als Parlament, dem die Legislative gebührte, entstanden. Die höchste richterliche Gewalt, ehemals dem Kaiser zugehörig, wurde unabhängigen Gerichten überantwortet, die Minister und Staatsorgane kontrollierten. Dem Kaiser verblieb das Begnadigungsrecht und die Sanktion der Gesetze. Die Transformation vom absoluten zum konstitutionellen Herrscher, der Aufstieg beratender Gremien zu gesetzgebenden Körperschaften unterlag der übergeordneten Instanz von Gesetzen. Wie schon längst in England war nun auch im Habsburgerreich das positive Gesetz höchste Staatsinstanz. Das Element des Gottesgnadentums, als göttliches Recht der Könige die Herrschaft legitimierend, blieb innerhalb der Dynastie bewußtseinsbildend. Noch steuerte und prägte es den Patriotismus, verlor aber im Prozeß der “Laiisierung ” des Staates und im Wandel des Proletariats zur Massengesellschaft an Autorität. Der Kaiser regierte durch die Regierungen, die sich zunehmend ihrer Eigenverantwortlichkeit bewußt wurden. Sie benötigten die Zustimmung des Parlamentes für Staatsausgaben in Friedens–und Kriegszeiten, die Bewilligung des Budgets.
Nach dem Sturz der Regierung Clam–Martinic brachte Karl Renner die österreichische Situation auf den Punkt:”[…]Wenn auch jetzt eine andere Regierung hier auf den Bänken sitzt, es ist immer derselbe exklusive Kreis weniger Menschen der Aristokratie und der Bürokratie, die ohne inneren Zusammenhang mit der Volksvertretung und ohne innere Fühlung mit dem Volke jeweils durch eine unnennbare Vorsehung [Hervorhebung d. d. Vfin] uns als Regierung eingesetzt werden. Und[…]wenn manchmal eine Regierung erscheint, die nur von Demokratie spricht, wir wissen doch alle, es sind nur dieselben Kreise, die die Herrschaft fortgeführt haben[…]und das Volk unterscheidet zwischen ihnen nicht. Und diese regierenden Kreise in Österreich haben es sich selbst zuzuschreiben, wenn nach einer dreijährigen Unterbindung des Verfassungslebens nun plötzlich und mit einer gewissen Wildheit […] die nationalen und sozialen Gegensätze hervortreten. Sie haben uns ja alle Handlungsfähigkeit in diesen Jahren genommen, sie haben uns den Krieg mitmachen lassen nicht als Staatsbürger, sondern als stumme Objekte der Staatsgewalt (lebhafter Beifall), sie haben uns nicht gerufen, wie man Männer ruft, daß sie handeln auf Grund ihrer Entschlüsse und reifen Überlegung, sondern einzig und allein aus dem Rechtstitel des stummen Gehorsams. Und nun haben Sie die Folgen davon. (Rufe : So ist es !)[…].”
Es war vermutlich die “Ökonomie der Persönlichkeiten”, daß Kaiser Karl den Verwaltungsjuristen und Ackerbauminister Ernst von Seidler zuerst mit der provisorischen, dann mit der definitiven Regierungsbildung betraute. Der Versuch, ein Nationalitätenkabinett mit Ministern aus allen Nationen, ein sogenanntes Völkerministerium, zu bilden, scheiterte an der Absage der Tschechen, die Bemühung, den Forderungen Renners Rechnung zu tragen, am Widerspruch der Sozialdemokraten: Sie wollten in kein Kriegskabinett eintreten, obwohl Renner längst Programme für Verfassungsänderungen publiziert hatte. Man war sich über den Zeitpunkt der Verfassungsänderung unklar. Die einen plädierten für den sofortigen Staatsumbau, wie ihn die Entente als Preis für den Frieden forderte. Die anderen erkannten die Chance für Veränderungen erst nach dem Krieg. Jetzt war das Gleichgewicht zu erhalten. Das Programm der Donaukonföderation, das Kaiser Karl mit der Amnestie als befriedeter Grundlage des neuen Staatswesens einleiten wollte, stand gegen den Dualismus. Der Gegensatz drückte sich im gespannten Verhältnis zwischen Kaiser und Außenminister, das seit Herbst 1917 deutlich wurde, aus. Versuchte der Kaiser Föderalismuskonzepte und geheime Friedensverhandlungen zu kombinieren, beharrte Czernin auf dem Dualismus und blockierte im deutschen Einfluß die geheimen Friedensverhandlungen. Die innen–und außenpolitischen Wechselbeziehungen Österreich–Ungarns waren sensibel: Gebietsabtretungen an Italien, Serbien und Rumänien gefährdeten den multinationalen Staat genauso wie die Fortsetzung des Krieges. Die Prozesse zu Bildung der slawischen Nationalstaaten waren schon im gang, unabhängig von der Frage, ob man die Habsburgermonarchie überhaupt noch föderalisieren könne.
Zwischen November 1916 und Jänner 1918 wurde unter deutscher und österreichischer Kontrolle systematisch ein selbständiger polnischer Staat aufgebaut: eine konstitutionelle Monarchie mit demokratischem Abgeordnetenhaus, mit einem Senat ohne politisch verantwortlichen Ministern. Das neue Königreich benötigte noch die Unabhängigkeit von den Okkupationsmächten, Regierung und Armee, das Recht, internationale Verträge zu schließen und den König. Kaiser Karl war im Sommer 1917 gewillt, auf Galizien zu verzichten und, um zum Frieden zu gelangen, auch Schlesien an Deutschland abzutreten. Polen schien bereit, sich in das europäische Konzept der Zentralmächte einzufügen. Seine Abgeordneten, bei den Abstimmungen meist ausschlaggebend, verhielten sich unter der Regierung Seidlers zuerst positiv. Die tschechischen und südslawischen Exilregierungen beeinflußten sie antiösterreichisch. Die Forderung nach Nationalarmeen kennzeichnet alle slawischen Staatsbildungsprozesse, sie wirkte auf die k.u.k. Armee, speziell auf Ungarn, zurück.
Ernst von Seidler deutete diese Problematik in seinem Rechenschaftsbericht von 1924 an. Er versuchte, den inneren Zusammenbruchs Österreichs, der den äußeren nach sich ziehen mußte, zu verhindern und bemühte sich wie Kaiser Karl um eine positive Bevölkerungspolitik. Während seiner Regierungszeit wurde das “Ministerium für Soziale Fürsorge” errichtet, das “Ministerium für Volksgesundheit” vorbereitet. Mit dem Nationalitätenproblem konfrontiert, konnte sich Seidler bei den Abstimmungen nur auf deutsche und christlich–soziale Parteien, auf einen Teil der Italiener, auf den Polenklub und auf die Rumänen stützen. Die föderalistische Lösung der Verfassungsfrage hielt er, weil zu spät begonnen, als technisch undurchführbar. Seidler sah die Ursachen der Probleme in gegensätzlichen Tendenzen: der nationale Föderalismus strebte nach einheitlichen Nationalstaaten. Die Indolenz der magyarischen Staatsauffassung verhinderte die Bildung des südslawischen Nationalstaats.
Anders der historische Föderalismus. Er propagierte neue Staaten auf geschichtlich gewachsenen Territorien. Verschiedene Nationen waren einem dominierenden Volksstamm unterzuordnen, was die Tschechen, die Magyaren kopierend, mit ihrem Ruf nach dem böhmischen Staatsrecht verlangten. Das deutsch–österreichische Bündnis blockierte seine Verwirklichung, Ungarn widersetzte sich, die Slowakei an die Tschechen abzutreten. Die Schweizer betrachteten das Nationalitätenproblem in Böhmen aus ökonomischer Perspektive: denn die finanziellen Ressourcen der propagierten Tschechoslowakei, die gesamte Industrie, und die Badeorte Karls–Marien–und Franzensbad, die enorme Geldsummen ins Land brachten, lagen in Deutsch–Böhmen. Nach Seidler hätte auch die böhmische Krönung Kaiser Karls, die 1917/18 zur Diskussion stand, die Probleme, die in der Schlacht am Weißen Berg (von 1620) wurzelten, nicht beseitigt.
Seidler versuchte, das böhmische Verfassungsproblem mit der “Nationalen Autonomie” zu lösen. In Kreisen verwaltet, würden die einzelnen Volksstämme kulturelle und nationale Autonomie erhalten, ihre Rechte ein Staatsgrundgesetz fixieren.
In Ungarn war Sandor Wekerle zusammen mit Vilmós Vázsonyi, dem jüdischen Minister des Wahlrechtswesens, beauftragt; die Wahlrechtsreformen durchzusetzen. Wie Moric Ezsterházy scheiterte auch Wekerle am Starrsinn Tiszas, der die Zulassung von 3,5 Millionen Ungarn zur Wahl (statt 1,8 Millionen von 1913) verhinderte. Um sich an der Macht zu halten, flüchtete Wekerle in neue Reformkonzepte, er forderte die Nationalarmee.
Der Ruf nach Nationalarmeen hatte mit der slawischen Nationalstaatenbildung eingesetzt: 1915 bei den Polen, 1916 bei den Tschechen, als Polnische und die Tschechische Legion entstanden. Die Südslawen waren noch im Stadium der Desertion. 1918 kämpften “Grünen Kadres” im Südosten der Monarchie als Partisanen.
Im Dezember 1917 befaßte die Forderung nach der selbständigen Ungarischen Armee einen Kronrat. Man behandelte das Problem mit österreichischer Verzögerungstaktik. Kaiser Karl und seine Mitarbeiter wollten die Armeefrage erst nach der Föderalisierung der Monarchie lösen. Die Ungarn behaupteten, die Kommandogewalt sei bei ihnen kein absolutes Recht wie in Österreich, sondern ein verfassungsmäßiges Recht, das der Herrscher mit der Nation teile. Sie wollten die Kommandogewalt des Königs beschneiden. Schließlich wurde die ungarische Armeefrage ausgesetzt. Seidler erklärte am 7. März 1918, die Armeetrennung könne nur durch Verhandlungen und mit Zustimmung Österreichs, d.h. des Reichsrats, erfolgen. So blieb die k. u. k. Armee bis zum Ende der Monarchie multinational und ungetrennt.
Die Armeefrage Ungarns erscheint im Winter 1917/18 weniger als nationale Notwendigkeit, denn als politisches Manöver, das die Pattstellung in der Innenpolitik kaschieren sollte. Im Jänner 1918 brach eine Regierungskrise aus. Wekerle vermochte den von Niederösterreich auf Budapest und auf 15 weitere ungarische Städte überspringenden Streik beizulegen dann versuchte er mit einer Kabinettsumbildung den neuen Anlauf zur Wahlrechtsreform.
Die Waffenstillstands–und Friedensverhandlungen von Brest Litowsk waren eine Drehscheibe überregionaler Bewegungen und politischer Aktionen. Das Nationalitätenproblem verband sich mit der Forderung nach Selbstbestimmung und mit den Doktrinen der Russischen Revolution. Im Habsburgerreich erfolgte der Zusammenschluß von Nationalismus und Demokratisierungstendenzen in der Not des Kriegswinters, in Hunger und Kälte. Die Analysen des AOK vom Sommer und Herbst 1917 waren eindeutig. Österreich–Ungarn könnte militärisch nur bis zum Spätherbst 1917, maximal bis zum Frühling 1918 durchhalten. Zu Beginn der Waffenstillstandsverhandlungen von Brest Litowsk hätte ein sofortiger Friedensschluß erlösend auf die Bevölkerung gewirkt, vielleicht eine Korrektur in Richtung Föderation und den Fortbestand des multinationalen Staates ermöglicht. Die Interessen des deutschen Militarismus und die Reaktionen der russischen Delegationen auf die verdeckten Annexionsprogramme Hindenburgs und Ludendorffs erweckten das zunehmende Mißtrauen der Slawen. Polen forderte seine Teilnahme an den Friedensverhandlungen. Zu recht befürchtete es, um Teile des Staatsgebiets geprellt zu werden.
Die Südslawen verlangten am 19. Dezember 1917 eigene Vertreter in Brest Litowsk. Sie entzogen Czernin ihr Vertrauen, der sich bei der Erörterung des Selbstbestimmungsrechtes jede Einmischung des Auslandes in die inneren Angelegenheiten Österreich–Ungarns verboten hatte. Am lautesten schrien die Tschechen. Von den Gesprächen Mensdorff–Smuts beunruhigt, bangten ihre Exilvertreter, die Alliierten würden die Bildung des tschechoslowakischen Nationalstaates aussetzen und als Kriegsziel fallen lassen. In Prag erließ der Generallandtag der böhmischen Länder unter Masaryks und Beneš geistigen Stabführung am 6. Jänner 1918 die sogenannte Dreikönigsdeklaration. Sie wandte sich zwar nicht expressis verbis gegen die habsburgische Dynastie, bestritt jedoch das alleinige Friedensschlußrecht des Kaisers. Graf Czernin, von dieser innenpolitischen Problematik staatsmännisch überfordert, war nicht in der Lage, rasch mit den Bolschewisten Frieden zu schließen. Schon im Halfter Kühlmanns, in anhaltender Verehrung für Wilhelm II. und unter dem Druck der deutschen Militärs, arbeitete er, nervös und krank, nach ihrem Konzept. Die Revolutionsfurcht saß ihm schon lange in den Knochen, es half nichts, daß er im Bett liegend, Erinnerungen von der Französischen Revolution studierte.
Bereits wenige Tage nach der Machtergreifung Lenins und Trotzkijs trat die bolschewistische Ideologie in Österreich–Ungarn, in Deutschland und Polen hervor. Am 11. November 1917 schrien die Sozialdemokraten bei einer Kundgebung im Wiener Konzerthaus nach dem Frieden ohne Annexionen und Kontributionen, dem Ausbau des Völkerrechts, nach internationaler Abrüstung und Anerkennung der Bolschewisten in Rußland. Solche Parolen wurden auch in Nieder–und Oberösterreich (St.Pölten, Linz) und in der Steiermark (Graz, Marburg, Leoben, Bruck an der Mur, Kapfenberg, Judenburg) laut. Ende November fanden in Böhmen, in Unterkärnten, im steirischen Industriegebiet, in Mähren und in Wien Friedens–und Hungerdemonstrationen statt. In Tirol empörte man sich gegen Tschechen und Juden (Zionisten). In den Widerstand gegen die unzumutbaren Lebensverhältnisse mischten sich politische und klassenkämpferische Parolen.
Beide Okkupationsmächte hatten im Dezember 1917 in Warschau Straßendemonstrationen zu Gunsten internierter polnischer Legionäre und ihres Führers Pilsudski blutig unterdrückt. Im darauffolgenden Jänner 1918 ging eine Streikwelle über die polnischen Industriegebiete. Wirtschaftliche Ursachen forcierten politische Themen: die Einberufung des polnischen Landtages, die Aufhebung der Okkupation und die Teilnahme Polens an den Brester Verhandlungen.
Analog zu diesen Protesten setzten zwischen 14. und 28. Jänner 1918 große sozialdemokratisch gelenkte Streiks in Niederösterreich und Wien, in Mähren und Galizien, in der Steiermark und in Salzburg ein. Sie ergriffen auch die Gebiete von Preßburg, Pola, Triest und Prag. Verschiedentlich wurden Rufe laut, der Regierung abzuschaffen, “den Thron niederzulegen” und die Republik einzuführen. In der Gesamtmonarchie waren je nach Größenordnung der Industrien tausend bis zweihunderttausend Arbeiter im Ausstand. In der Woche nach dem 21.Jänner 1918 war Graf Czernin in Wien. Er versuchte, eine Militärdiktatur unter Fürst Aloys Schönburg–Hartenstein mit FML Karl von Bardolff als Innenminister zu schaffen, Seidler zu stürzen und Tisza zum neuen Ernährungsminister zu befördern. Seine Pläne scheiterten am Widerstand Kaiser Karls, der von Schloß Laxenburg anstatt nach Wien, wie es Czernin gewünscht hatte, nur nach Baden ins Kaiserhaus übersiedelte. Es gelang Seidler, die Arbeiter zu motivieren den Streik abzubrechen. Hatten im Jänner 1918 russische Einflüsse die Staatsform in Österreich–Ungarn und Deutschland auf den Prüfstand gestellt, zeigte die Meuterei bei der k.u.k. Flotte in Cattaro im Februar 1918 die Wirkung italienischer Propaganda. Die bis zum Sommer 1918 wiederholt aufflammenden Streiks und Meutereien konnten unterdrückt werden.
Auch der Friedensschluß mit der Ukraine (Brest Litowsk, 9. Februar 1918) provozierte revolutionäre Reaktionen. Die Polen waren über die Abtretung des Cholmer Landes so empört, daß der Regentschaftsrat seine Beziehung zu Österreich solange unterbrach, als Czernin im Amt blieb. Es kam zur Regierungskrise in Österreich. Obwohl der Kaiser Seidlers Demission verhinderte, dauerte die Krise an; nachdem die galizischen Großgrundbesitzer um ihre Latifundien in der Ukraine fürchteten. Man rettete sich von einem Budgetprovisorium zum anderen, schließlich blieben die polnischen Delegierten am 7. März 1918 der Abstimmung fern. Das Herrenhaus, mit Czernin solidarisch, hatte am 28. Februar für den sogenannten “Siegfrieden” gegen alle Verständigungsversuche von Lammasch und Wilson votiert.
Die Sixtusaffaire provozierte nicht korrigierbare Reaktionen Deutschlands und der USA und destruktive Tendenzen im Inneren. Czernins Versuch, den Kaiser zum zeitweiligen Verzicht auf die Regierungsgeschäfte zu bestimmen, erzeugte die Identitätskrise der Bevölkerung, bewirkte den Popularitätsverlust des Kaisers und verstärkte die Aggressionen gegen die Kaiserin und ihre Familie.
Einige Tage nach dem Rücktritt Czernins konstatierte der deutsche Botschafter den Stimmungsumschwung in Wien. Er schrieb an Hertling: “[…]Wer die letzten Monate in Österreich gelebt hat, muss sich über die Wirkung der Sixtus–Affaire auf die hiesige öffentliche Meinung wundern. Man konnte nicht genug über den deutschen Verbündeten raisonnieren […]man konnte glauben, man sehne sich nach einem . Nun aber, wo man eine ernste Gefährdung des Bündnisses befürchtet, geht ein Schrei der Bestürzung und des Protestes gegen eine solche Politik durch die Lande.[…]Mit Ausnahme einzelner Narren verlangen alle deutsch und ungarisch sprechenden Bewohner der Doppel–Monarchie stürmisch ein Festhalten am Bündnis, […]. Man verlangt politische, wirtschaftliche und militärische Bindungen. Aktionen werden vorbereitet, speziell in Herrenhauskreisen (sic!), wo unter der Führung General Viktor Dankls [Oberst sämtlicher Leibgarden!] für eine Militärkonvention–man vermeidet das Wort und sagt – agitiert wird. Man hat es nie so deutlich gefühlt wie jetzt, dass die Monarchie, wenn überhaupt, nur noch unter dem Schutz des Deutschen Reiches fortleben kann, dass eine Abkehr vom Verbündeten den sicheren Untergang bedeutet. Das gesunkene Vertrauen zum Regiment der Krone hat zu dieser Erkenntnis erheblich beigetragen.[…] Unmittelbar nach den Pariser Enthüllungen sagten mir führende Köpfe der Deutschen: .[…] Die Umwandlung Österreichs in einen Staat mit slavischer Vormacht und allmählicher Abkehr vom Bündnis wäre nur dann gegeben, wenn ein Habsburger es verstanden hätte, durch eine glückliche Politik das Vertrauen Österreichs und Ungarns zu festigen und durch geschickte Ausnützung populärer Momente eine Annäherung an andere Mächtegruppen zu vollziehen. Diese Gefahr existiert nicht mehr, Kaiser Karl hat den Deutschen und Magyaren die Augen geöffnet, einer Parma–Politik werden sie sich niemals mehr anvertrauen[…].” Welcher Beweis für das Medientalent Czernins! Die Propaganda gegen Kaiserin Zita reichte bis in den Sommer 1916 zurück, die Verleumdungen gegen sie und ihre Brüder Sixtus und Xavier stammten aus der französischen Presse. Die Kaiserin wurde nach der 12.Isonzoschlacht bezichtigt, die Einnahme Venedigs verhindert, Fliegerangriffe auf italienische Städte verboten zu haben. Alle diese Ausstreuungen–so Seidler am 6. Juli 1918–kamen aus Armeekreisen. Sie waren Produkte der feindlichen Northcliffe Propaganda, ähnlich den Gerüchten vom April 1918, die bei den Truppen an der italienischen Front kursierten: Kaiser Karl sei ein Trinker und verletze die eheliche Treue. Nach Werkmann kam der Vorwurf der politischen Treulosigkeit vom deutschen Bundesgenossen, nach Alois Musil entstammte er der von Kaiser Wilhelm II. forcierten Agitation. Den “Sitz im Leben” hatte dieses Gerücht vom trinkenden Kaiser in der Gestalt seines Pressesekretärs Karl Werkmann, der dem Alkohol stark zusprachen und deshalb den Spitznamen < der besoffene Karl > trug. Die Verleumdungskampagne setzte unmittelbar nach dem Kongreß der “Unterdrückten Völker ” ein. Sie begann rasch an den Fronten zu wirken und zielte auf die Integrationsfiguren des Reiches, um den Patriotismus zu vernichten. Seidler bemühte sich vergeblich um die Errichtung eines privaten Propagandabüros, er scheiterte am Geldmangel.
Im Mai 1918 grassierten antidynastische Gerüchte. Sie wurden von Polen und Tschechen verbreitet und drangen von der Armee bis in die urösterreichischen Schichten des Hochadels. Auch Erzherzoge waren gegen die Kaiserin, weil sie deren unlauteren Kriegsgewinn kritisiert hätte. Mitglieder des allerhöchsten Hauses, die mit Prinzessinnen aus Deutschland oder Spanien verheiratet waren (Eh Friedrich, Eh Joseph, Eh Leopold Salvator), agitierten an der Seite Czernins gegen den sogenannten “Parma–Kurs” Kaiser Karls. Arbeiter bewarfen das Auto von Kaiserin Zita mit Steinen und Hofbeamte intrigierten gegen sie. Ovationen für den Kaiser waren gestellt, in Regierungskreisen setzte die Depression ein. Im Juni 1918 erfaßten die Gerüchte die gesamte Bevölkerung. Stubenmädchen, Köchinnen, Korporale und Wachtmeister verbreiteten sie öffentlich, laut und ungeniert. Sogar die Kinder in den Schulen prahlten damit. Nach der mißglückten Piave Offensive zirkulierte die Behauptung, die Kaiserin hätte die Offensive verraten. Angeblich wäre auf ihren Befehl (!) auf die Italiener nur mit Tränengas, mit dem “Zita–Gas,” anstatt mit dem tödlich wirkenden Cyangas geschossen worden. In seinen Persönlichen Erinnerungen dementierte Kaiser Karl dieses Gerücht und forderte damit sogenannte moderne Journalisten heraus, neuerlich den Stab über ihn zu brechen. Der Kaiser konnte tun, was er wollte, die öffentliche Meinung hatte sich gegen ihn gewendet, Streiks, Meutereien und Gerüchte kritisierten seine Kommando–und Regierungsgewalt, sie zielten auf die “Fahne des Regiments.”(Grillparzer).
In diesen Wochen versuchten die Österreichischen Bischöfe, die Bevölkerung wieder zum Patriotismus zu motivieren. Am Sonntag, den 30.Juni 1918 hatte Kardinal Piffl mit 6000 Personen im Wiener Rathaus eine patriotische Versammlung abgehalten. “[…]Die Zensur verhinderte den Bericht über diese bestgemeinte, wirklich von Vaterlandsliebe eingegebene Beratung”[…]. Wie der Kardinal dem Minister für Kultus und Unterricht mitteilte, hatte er im Juli die Seelsorger angewiesen, von der Kanzel gegen die bekannten antidynastischen und staatsfeindlichen Gerüchte der letzten Monate mit aller Entschiedenheit aufzutreten. Der Katholische Volksbund betrieb Wochen hindurch eine intensive Versammlungstätigkeit zur Beruhigung weiter Massen der Bevölkerung von Wien und Umgebung. In der letzten Augustwoche 1918 publizierten die Erzbischöfe und Bischöfe Österreichs einen Hirtenbrief. Sein Verfasser, Bischof Josef Gross von Leitmeritz, versuchte in letzter Stunde, die Treue zu Kaiser und Reich, zum angestammten Herrscherhaus, zu festigen, die Quellen der Verleumdungen bloßzulegen. Der Hirtenbrief verteidigte die staatliche Autorität, das Gottesgnadentum der Könige, bekämpfte den Wucher, rief zur Freigebigkeit gegenüber den Armen auf. Er beschwor Österreichs Sendung, seine providenzielle Aufgabe, katholische Vormacht im Herzen Europas zu bleiben, das Vaterland jenes Völkerbundes zu sein, den es beherbergt, die Einigkeit seiner Völker im katholischen Glauben. “[…] Wenn es den Feinden gelänge, den Völkern dieses Reiches den katholischen Glauben zu nehmen, dann wären die Ströme Blutes, die für ein neues und starkes Österreich vergossen werden, umsonst geflossen.[…]”
Das junge Kaiserpaar absolvierte in diesen Wochen und Monaten des Drucks und der inneren Unruhe seine Programme, es erfüllte die täglichen Pflichten. General von Cramon, unmittelbar nach der Sixtusaffaire zu Kaiser Wilhelm II. befohlen, regte im Einvernehmen mit Gottfried Hohenlohe und Czernin den Besuch Kaiser Karls in Spa an. Wilhelm II. sollte dem Habsburger die entsprechende Zensur für die Sixtus–Affaire erteilen. Parallel dazu ersuchten einzelne Herrenhausmitglieder den österreichischen Ministerpräsidenten, auf die konstitutionellen Einschränkungen des Herrschers zu achten, denn Seidler und Weckerle hatten die Friedensversuche Kaiser Karls über Prinz Sixtus verfassungsrechtlich gedeckt.
Die Planungen für Abschluß von Militärkonvention, politischem und wirtschaftlichem Bündnis mit Deutschland und für die Erneuerung des Zweibundvertrages liefen mit deutscher Gründlichkeit. Die Österreicher schienen jetzt auf alle Wünsche einzugehen.
Der Besuch Kaiser Karls im Großen Deutschen Hauptquartier fand am Sonntag, den 12. Mai, von 9 Uhr vormittags bis 10 Uhr abends statt. Propagandistisch als “Canossagang von Spa” hingestellt, sollte die bevorstehende enge Bindung Österreichs an Deutschland, der Verlust seiner Unabhängigkeit, öffentlich gerechtfertigt werden. Dazu Kaiser Karl in seinen Persönlichen Aufzeichnungen: “[…]Der Empfang in Spa war ziemlich kühl, der Kaiser [Wilhelm] wollte mir zuerst eine Moralpauke halten, die ihm nicht glückte. Er fing über den Einfluß der Damen an zu reden[…]; ich erwiderte ihm, er hätte mit Ausschaltung von Dameneinflüssen ganz recht und ich hätte mich seit meinem Regierungsantritt sehr bemüht, die einzig politisierende Dame der Verwandtschaft auszuschalten, jedoch sei ich bis zum heutigen Tag der Erzherzogin Isabella noch nicht Herr geworden.–tableaux.[…]” Ehn Isabella war nach Angaben von Kaiserin Zita die Agentin Kaiser Wilhelms am Habsburgerhof. Nun forderte er Kaiser Karl auf, die beiden Parma Prinzen ins neutrale Ausland zu bringen oder sie in Österreich zu isolieren. Der Habsburger lehnte ab.” Die Deutschen vermieden, den Stolz des Kaisers von Österreich zu verletzen, um ihre Forderungen nicht zu gefährden. Burián und Arz suchten den Konsens herzustellen, die Schwierigkeiten in der Versorgungslage zu beseitigen und die deutschen Ansprüche mit diplomatischer Kunst zu paralysieren. Dazu Kaiser Karl:”[…]Damals ist es uns gelungen, die überschlauen Preußen furchtbar hineinzulegen. Wir verfaßten von beiden Monarchen unterschrieben einen großen Staatsakt, worin die enge militärische und wirtschaftliche Bindung versprochen wurde, unter der einen Bedingung freilich, daß die Verhandlungen über Polen einen die beiden Vertragsteile befriedigenden Abschluß finden würden. Letzteres war natürlich unmöglich. Das hat der alte Burián doch vorzüglich gemacht![…]Während der Besprechung über die Militärkonvention äußerte sich Kaiser Wilhelm in seiner Plötzlichkeit: auch Bayern wäre mit der Militärkonvention sehr zufrieden. Also ein größeres Bayern sollten wir werden! Dies waren ja die genauen Worte, mit denen ich zu Hause immer die Idee der Militärkonvention zurückwies. Ludendorff, der seine innersten Pläne enthüllt sah, war sehr aufgebracht gegen seinen kaiserlichen Herrn. Abends waren die Preußen sehr aufgeräumt, hielten sich für Sieger; sie hatten unsere polnische Falle nicht bemerkt.[…]”
Der sogenannte Monarchenvertrag von Spa, am Nachmittag des 12. Mai paraphiert, war eine Vereinbarung, ein “pactum de contrahendo”, kein Vertrag an sich. Er erklärte die Absicht, ein langfristiges, der Verteidigung und Sicherheit der beiden Kaiserreiche dienendes politisches Bündnis zu schaffen, einen Waffenbund und stufenweise ein Zoll–und Wirtschaftsbündnis auszubauen. Sieben Punkte, der Vereinbarung beigelegt und am Abend dieses Sonntags von Hindenburg und Arz unterschrieben, formulierten die “Grundlagen für den Waffenbund.” Jeder waffenfähige Mann würde zur militärischen Ausbildung verpflichtet. Die Grundsätze für Organisation, Ausbildung und Verwendung der Truppe, ihre Bewaffnung wären zu vereinheitlichen, der Offiziersaustausch wechselseitig zu halten, die Kriegsvorbereitung gemeinsam zu treffen. Der einheitliche Ausbau des Eisenbahnnetzes wurde konzipiert. Die Rüstungspläne für die Kriege der Zukunft lagen auf dem Tisch. Der Reichskanzler, hatte in der Vorbereitungssitzung am 11. Mai 1918 versucht, die Kriegsgier der beiden Militärs auf weitere Operationen in Transkaukasien zu mäßigen. Hindenburg und Ludendorff waren unbeeinflußbar gewesen, nur davon besessen, England wo auch immer in der Welt zu besiegen. Hindenburg hatte auf die Vergrößerung des Grenzstreifens, den man von Polen abtrennen wollte, gedrängt, während man sich um die Kontrolle der Brotrationierung in Österreich den Kopf zerbrach! Im Juni 1918 setzten die Detailverhandlungen zum Zoll–und Wirtschaftsbündnis ein, die sich an der polnischen Frage spießten. Cramon arbeitete an den Bestimmungen für den Waffenbund. Um ihn aus der parlamentarischen Diskussion zu halten, konzipierte er die Abmachungen innerhalb der kaiserlichen Kommandogewalt. Es ist nicht zu übersehen: Deutschland versuchte, die Kommandogewalt des Kaisers von Österreich einzuschränken und jetzt an sich zu ziehen.
Seit damals steuerte die österreichische Regierung den sogenannten “deutschen Kurs”, wie ihn Czernin bereits im Herbst 1917 gefordert hatte. Seidler versuchte, beraten von den deutschnationalen Abgeordneten Pantz, Teufel und Waldner, gegen die opponierenden Nationalitäten die Nationale Autonomie mit Zustimmung der deutschen Parteien einzuführen. Kaiser Karl veranlaßte ihn, den Reichsrat zur Frühjahrssession angeblich wegen des Nationalitätenstreites verspätet einzuberufen. Der Kaiser wollte damit parlamentarische Diskussionen zur Sixtusaffaire während seines Besuches mit der Kaiserin in Sofia und Konstantinopel (16.–24. Mai 1918) vermeiden. Er hatte sich im Winter für eine letzte Offensive gegen Italien entschieden, um österreichische Truppen von der deutschen Westoffensive fernzuhalten. Die Piave–Schlacht wurde mit großem Aufwand vorbereitet, parallel liefen Friedenssondierungen mit Italien über Papst Benedikt XV. und Eugenio Pacelli. Kaiser Karl rechnete mit einem baldigen Frieden und dem Zwang zur inneren Umformung der Monarchie:”[…]vor dem Friedensschluß müssen die Dinge in Oesterreich geordnet sein, damit man uns beim Friedensschluß nicht hineinredet; […]es kommt zu einem Verständigungsfrieden und diesem muss die Verständigung in Oesterreich vorausgehen; im Süden wird man machen, was man in Böhmen macht, also die Kreisordnung, die Deutschen im Süden müssen sich fügen wie die Tschechen im Norden; den Slovenen kann man entgegenkommen, indem man ihnen in Laibach eine Landesregierung einrichtet (für Krain, Südsteiermark, das slovenische Kärnten und wohl auch Istrien), aus Triest wird ein Hamburg errichtet. Das muss geschehen, ist aber parlamentarisch nicht zu erreichen[…]Wilson darf nicht die österreichischen Verhältnisse ordnen und auch Deutschland darf es nicht. Wir müssen sie selbst ordnen.[…]” Nun versuchte Seidler mit dem § 14 zu arbeiten, er stürzte. Die Minister lehnten diese Art des Regierens ab, die beiden Kammern weigerten sich, die Verhandlung zur Einführung der Nationalen Autonomie bis zum September auszusetzen. Als das bereits nicht mehr aktuelle Geheimprotokoll vom 8. Februar 1918, das den Ruthenen Ostgaliziens und der Bukowina das eigene Kronland zugestand, öffentlich bekannt wurde, mußte Seidler sein Amt niederlegen. Nach der Budgetrede vom 16. Juli 1918, zu der er bereits mit Turbulenzen empfangen worden war, akzeptierte der Kaiser die Demission (22. Juli 1918). Seidler war Zielscheibe von Agressionen und scharfer Kritik: Demblin nannte ihn eine Lakaienseele, die Minister stießen sich an seinem kleinlich–autoritären und berechnenden Stil. Wissenschaftlich introvertiert und politisch wenig begabt vermochte er die innere Ordnung Österreichs nicht mehr zu festigen. Dem Kaiser völlig ergeben und absolut treu, nahm Seidler in schwerster Zeit dafür persönliche Verunglimpfungen auf sich.
Auch in Ungarn dominierte der Dissens von politischen Parteien, Reichstag und königlicher Regierung. Die Wahlrechtsfrage war trotz Regierungsumbildung (23.Jänner 1918) und zweiter Demission Wekerles (17. April 1918) unlösbar. Am 5. Mai 1918 wieder zum Ministerpräsidenten ernannt, erhielt Wekerle die königliche Ermächtigung, Neuwahlen auszuschreiben, sollte die Wahlrechtsreform blockiert werden. Schließlich gelang das politische Spiel: der Ministerpräsident verbündete sich mit Tisza und konnte am 19. Juli 1918 das Wahlrecht parlamentarisch einführen. Gegenüber dem Entwurf von Dezember 1917 waren jetzt weniger Ungarn wahlberechtigt, sie mußten sechs Volksschulklassen absolviert haben und längere Arbeitszeiten vorweisen. Das geplante Frauenwahlrecht fiel, doch die konkrete Durchführung dieser lang und heiß umstrittenen Reform fand nicht mehr statt.
Seit der Clemenceau -Sixtus–Affaire überdachte Staatssekretär Lansing einen Kurswechsel der amerikanischen Außenpolitik. Als Kaiser Karl am 10. Mai 1918 nach Spa fuhr, schrieb Lansing an Wilson:”[…]ich glaube nicht, daß wir zögern sollten, die Politik zu verändern, wenn ein Wechsel zu unserem Erfolg beitragen wird, vorausgesetzt, er ist nicht unehrenhaft oder unmoralisch[…].”Lansing überlegte die Desintegration Österreich–Ungarns, dessen Aufteilung mit dem Selbstbestimmungsrecht zu fördern und die Revolution zu schüren. Die USA sollten jetzt die erfolgreichen Methoden Deutschlands, mit denen die Auflösung Rußlands gelungen war, auf die österreichischen Kronländer anwenden.
Vierzehn Tage später unterbreitete Lansing dem Präsidenten ein “Memorandum über unsere Politik gegenüber Österreich–Ungarn.” Seine Schärfe und Entschlossenheit waren kaum zu übertreffen. Weder Deutsche noch Amerikaner hatten die politische Undurchführbarkeit des Monarchenvertrags von Spa erkannt. Nachdem die Veröffentlichung des Sixtusbriefes jede Möglichkeit inoffizieller Friedenssondierungen mit Österreich zerstört hatte, schrieb Lansing, wäre es von Deutschland nicht mehr zu trennen.”[…]Wenn nach der Friedenserklärung Deutschland seinen Vorrang behält[…] so werden die Preußen […]den Krieg gewonnen haben; darf Österreich im Bereich des heutigen Territoriums […]bleiben, wird der deutsche Kaiser Millionen von Menschen kontrollieren.[…] Das gerechte Verlangen dieser Nationalitäten,[Polen, Tschechen, Jugoslawen und Rumänen]wie das Übel der deutschen Dominanz und der Friede der Welt schreien gegen solch ein Kriegsergebnis. […] Der Prussianismus ist zu zerstören und Deutschland muß gezwungen werden, sich einem gerechten Frieden zu unterwerfen.[…]” Kaiser Karl würde der Vasall Deutschlands, die amerikanische Politik sei zu revidieren. Denn Karl habe im Deutschen Großen Hauptquartier sein Geburtsrecht abgetreten; er verdiene keine Sympathie”[…]Ein Österreich–Ungarn unter absoluter Kontrolle Preußens wäre eine noch größere Bedrohung für Freiheit und Frieden als 1914.[…] Im Hinblick auf diesen neuen außenpolitischen Zustand muß Österreich–Ungarn als Reich ausgelöscht und unter die Nationalitäten […]aufgeteilt werden. Als Großmacht sollte es nicht mehr bestehen.[…]Ohne seine Nationalitäten und des von ihnen besetzten Territoriums, würde Ungarn zweifellos wünschen, ein unabhängiges Königreich zu werden. Österreich bliebe bloß ein schwaches und unbedeutendes Erzherzogtum. Über diesen hilflosen Staat wäre Karl der Herrscher. Die Österreicher und die Habsburger würden dieses Schicksal reichlich verdienen. Das anzukündigen und Österreich–Ungarn bekanntzugeben sind die nächsten Schritte dieser Politik.”
Das Außenministerium der USA interessierte sich jetzt für die Beschlüsse des Kongresses von Rom und publizierte sie. Für Masaryk und seine Freunde, die bis dahin in Washington antichambriert hatten, gingen jetzt die Türen zur amerikanischen Regierung auf.
Wilson benötigte zur devinitiven Entscheidung noch einen Monat. Am 25. Juni 1918 war die Piaveschlacht gegen Österreich–Ungarn entschieden. Kaiser Karl mußte als Gegenleistung für deutsche Lebensmittelhilfe sechs k.u.k. Divisionen an die Westfront abkommandieren. Nun drängte Lansing zur Entscheidung. Nur die Furcht vor Macht und Machtgier Rußlands hätte die multinationale Donaumonarchie, die durch Eroberung und nicht durch Selbstbestimmung entstanden wäre, zusammengehalten. Nach dem Sturz des Zaren sei diese Angst dem nationalen Unabhängigkeitsdrang gewichen. Allein die Ankündigung dieser Politik würde den Kriegsfaktor Österreich–Ungarn ausschalten, die Niederlage Deutschlands, die Destruktion Mitteleuropas, die Emanzipation Rußlands von deutscher Herrschaft herbeiführen, den Frieden wiederherstellen.”[…] Ist diese weise Politik anzunehmen, dann sollte das geschehen, wenn die politischen, militärischen und sozialen Bedingungen Österreich–Ungarns in größter Konfusion sind und wenn der Geist der Revolution reif ist.[…]bedingungslos und eindeutig.[…]”
Wilson stimmte diesem Todesurteil über Österreich–Ungarn zu. Er fuhr am 4. Juli 1918 nach Mount Vernon zum Grab Washingtons und verkündete dort die Pläne der USA, die leidenden Völker aus allen Teilen der Welt von der Oberherrschaft der sie unterdrückenden Regierungen zu befreien, ihnen Selbstbestimmung, internationales Schiedsgericht und Völkerbund zu bringen:”[…]Wir streben nach der Herrschaft des Rechtes, gegründet auf der Zustimmung der Regierten und gestützt von der organisierten Meinung der Menschheit. […]Hier[am Grab Washingtons]werden jene Kräfte erweckt, die die große Nation[=Frankreich][…] zuerst als Revolution gegen ihre rechtmäßige Autorität richtete. Aber seither hat sie darin längst einen Schritt zur Befreiung ihres eigenen wie des amerikanischen Volkes erkannt. Ich spreche hier voller Stolz und Zuversicht von der Ausbreitung dieser Revolution und dieser Befreiung auf die große Bühne der Welt. Die verblendeten Machthaber Preußens haben Kräfte erweckt, die sie wenig kannten, Kräfte, die, wenn einmal erweckt, niemals wieder zu Boden geschlagen werden können; denn sie besitzen ein Herz von Unsterblichkeit und Triumph.[…]”
In Wien nahm man das nicht so ganz ernst. “[…]Sie werden uns nicht vernichten, aber es wird lange dauern, bis sie davon überzeugt sind”, schrieb Handelsminister Wieser in sein Tagebuch,”[…]merkwürdig, wie doch die grossen Dinge, die noch in der Ferne sind, weniger wirken als die kleinen[…]in der Nähe. Der Verlust eines Hügels gegen die Italiener tut mir ganz anders weh.”