KAPITEL XIV – TSCHECHISCHER HOCHVERRAT

(MAI BIS OKTOBER 1917)

Seit 1915 existierte in Paris der „ Tschechoslowakische Nationalrat“. Sein Generalsekretär war Edvard Beneš, sein geistiger Führer Thomas Masaryk, ehemals Professor der Philosophie an der Universität Prag, seit 18. Dezember 1914 im Exil, seit 2.Oktober 1915 Professor für Slawistik am Londoner King‘s College.
Die tschechische Exilregierung lebte vom geheimen Informations- und Nachrichtendienst, der die Tschechen in Österreich mit jenen in Paris verband. Die hochpolitische Spionage betrieben Tschechen in Wien: geheime Nachrichten gingen vom Diener des Innenministers Heinold zu Abgeordneten nach Prag, von dort über Gleichgesinnte in der Schweiz nach Paris. Auf dieser Basis konnte die tschechische Exilregierung ihr Propagandanetz spinnen, politische und finanzielle Kontakte in den Ländern der Entente knüpfen.
Masaryk und Beneš waren zweifellos hochbegabt. Ihr politisches Ziel bestand in nichts Geringerem als in der Zerstörung der Österreichisch – ungarischen Monarchie und im Aufbau des tschechischen Nationalstaates. Mittel zu diesem Zweck war der Verrat. Beide arbeiteten an dem groß angelegten Kontaktsystem von der Heimat zu den tschechischen Kolonien in der Schweiz, in Paris, Moskau und in den USA, wie zu den Regierungen der Entente. Es funktionierte über Nachrichtendienste, Bürokratie, Freimaurerlogen und propagandistische Zeitschriften.
Natürlich wußte man in Österreich – Ungarn von diesen Agitationen. Während der Regierungszeit Kaiser Franz Josephs versuchte General Conrad über die Militärgerichte durchzugreifen. Als hervorragendstes Beispiel dieser Bemühungen rangierte der Prozeß gegen den Reichsratsabgeordneten Karel Kramar. Er war juridisch ungenügend fundiert und nicht haltbar. Im Verlauf der Ereignisse entstanden Spannungen zwischen Conrad und dem damaligen Ministerpräsidenten Karl Graf Stürgkh, der in Böhmen den Kurs Conrads bremste und Kramar entlastete.
Nach dem Tod Kaiser Franz Josephs erstarkte der tschechische Nationalismus. Die Eröffnung des Reichsrates war zu erwarten. Zunächst versuchte Kaiser Karl, der Propaganda den Wind aus den Segeln zu nehmen, er berief Hochadelige aus Böhmen an die Spitze von Staat und Regierung: Heinrich Clam – Martinic wurde österreichischer Ministerpräsident, Ottokar Graf Czernin k.u.k. Außenminister und Minister des Kaiserlichen Hauses. Clam–Martinic versuchte, die neue Böhmischen Landesordnung, die lang diskutiert und vorbereitet war, im Oktroi einzuführen, was der Ausbruch der russische Revolution verhinderte. Die Streikbewegungen in Österreich erzwangen die Einberufung des Parlaments. Als sie dann im Mai 1917 die Zentren der Rüstungsindustrie in Böhmen erfaßten und als der Einfluß der russischen Revolution bedrohlich zunahm, vermochte Beneš, die tschechischen Interessen im In- und Ausland zu koordinieren. Tschechische Abgeordnete forderten bei der Eröffnung des Reichrates den tschechischen Nationalstaat innerhalb der Donaumonarchie auf der Basis des historischen Staatsrechtes. Auch andere gehorchten Beneš, als sie die Verfassung Österreich – Ungarns von 1867 nicht anerkannten und dem neuen Souverän die Huldigung zu verweigerten.
Stefánik und Masaryk organisierten bis Mai 1917 in den russischen Kriegsgefangenenlagern die sogenannte “Tschechoslowakische Legion,” um der Entente wie Österreich- Ungarn die Kriegsziele der tschechischen Exilregierung bewußt zu machen.
Zur vorläufigen Befriedung des Nationalitätenproblems erließ Kaiser Karl am 2. Juli die Amnestie und begnadigte auch tschechische Hochverräter. Dieser kaiserliche Gnadenakt bewirkte statt den inneren Friedens die Polarisierung der Bevölkerung. Denn am selben Tag hatten sich in der Schlacht von Zboróv 5000 tschechische Soldaten mit ihren Offizieren den Russen ergeben, nachdem die propagandistische Agitation sie zu passiver Resistenz und Desertion aufgefordert hatte. Wenige Tage vorher war bei der Freimaurerkonferenz in Paris die Unabhängigkeit Böhmens und die Auflösung der Habsburgermonarchie in Nationalstaaten beschlossen worden.
Einen Tag nach Ausbruch der 12. Isonzoschlacht, am 25. Oktober 1917, erschien Edvard Beneš im britischen Außenamt, wo er ein umfangreiches, 40 Großfolien umfassendes Dossier über die tschechische Frage deponierte. Dazu legte er eine 15-seitige Abhandlung von Vlastimil Tusar zur inneren Situation Österreichungarns . Beide Dokumente wurden kaum beachtet, ihre politische Tragweite wurde nicht erkannt.
Beneš stellte die tschechische Frage in neun Kapiteln dar und illustrierte sie mit einer Landkarte des Königsreiches Böhmen Mähren und Schlesien. Tusar behandelte in seinem vertraulichen Bericht vom 1. Oktober 1917 die politische, ökonomische und finanzielle Situation Österreich Ungarns.
Für Beneš bedeutete Patriotismus extremer Nationalismus; der Verrat an Kaiser und Reich erschien ihm als Verpflichtung. Er war sich seiner Perfidie bewußt und rechtfertigte sie gegenüber Großbritannien. Ein Sieg der Zentralmächte verwirklichte die Träume der Pangermanisten, die Tschechen blieben weiterhin unterjocht. Die politische und geographische Situation des Landes erlaube keine passive Resistenz; deshalb hintertrieben die Tschechen seit Kriegsbeginn die Pläne Wiens und Berlins. Vorderhand hätten ihnen die Alliierten wenig geholfen.
Beneš listete die “Verdienste” der Tschechen zugunsten eines unabhängigen Nationalstaates auf und verwies die Entente auf ihren Tribut:
• ihre im österreichischen Parlament verweigerte Loyalitätserklärung (Mai 1917),
• ihre Ablehnung, Kriegsanleihen zu zeichnen,
• passive Resistenz und Befehlsverweigerung im Krieg, sowie deren Konsequenzen: Arrest, Todesurteile und die Einteilung in Todeskommandos .
• der Eintritt von tschechischen Kriegsgefangenen in die serbische und russische Armee.
• Die tschechische Presse würde zum Ärger der Zensur die wirkliche Situation des Landes darstellen und die Lügen der öffentlichen Information aufdecken.
Nur die Tschechen hätten das „militärische Desaster“ in der k.u.k. Armee vorbereitet, was ihre Bevölkerung durch brutale Verfolgung und Hunger büße. Im Kampf gegen die Germanisierung habe das Volk seine nationalen Werte verloren. Es vertraue auf den Sieg der Alliierten und auf seine Befreiung vom österreichisch -ungarischen Joch. Zu Zeiten Kaiser Franz Josephs hätten die tschechischen Abgeordneten zwar im Wiener Reichsrat geschwiegen, jedoch zweimal seine Einberufung verhindert. Sie führten den Oppositionsblock von Polen, Südslawen und Ruthenen an und forderten bei der Reichsratseröffnung (3o.Mai 1917) den unabhängigen souveränen tschechischen Staat und eigene Vertreter bei einer künftigen europäischen Friedenskonferenz. Beneš verschwieg, daß damals noch sämtliche Nationalitäten am habsburgischen Gesamtstaat festhielten. Man müsse die Sitzungsprotokolle der österreichisch -ungarischen Kammern lesen “[…]um zu sehen, wo man heute in Österreich durch die tschechische Resistance ist. Es ist unbestreitbar, die eigentlichen Urheber aller politischen Krisen und Schwierigkeiten in Österreich waren die Tschechen[…].” (!)Seit Kriegsbeginn versuchten sie, die Politiker der Entente mit ihren Problemen zu befassen und von der notwendigen Lösung der böhmischen Frage zu überzeugen. Beneš verwies auf die Solidarität der Tschechen in Böhmen mit den Exil – und Auslandstschechen: eineinhalb Millionen Tschechen und Slowaken lebten in den USA, in Pittsburgh, Chicago und New York mit über 20 politischen Tageszeitungen , nationalen Schulen, Banken, Sparkassen und Berufsorganisationen. Ihre Vertreter säßen in Parlamenten, Universitäten, wirtschaftlichen Gremien, in der öffentlichen Administration. In Rußland zählte die Kolonie 50.000, in Frankreich 2000, in England 500. Sie alle ermöglichten die Errichtung des “Tschechoslowakischen Nationalrates ” in Paris, den Masaryk, Beneš und Stefánik repräsentierten. Ihnen standen Lew Sychrava und Štephan Osuský, Vizepräsident der slowakischen Liga in Pittsburgh, zur Seite, um den für die Propaganda notwendigen Finanzfonds einzurichten.
In Rußland, warben Mitglieder der Kolonien aus St.Petersburg, Kiew und Moskau bei den Kriegsgefangenen für die geplante Nationalarmee .
In London, Paris, Rom, St.Petersburg, Chicago und New York bestanden Propagandabüros.
Sehr detailliert stellte Beneš die “Tschechischen Legion” als Vorläuferin der tschechischen Nationalarmee und diese als Garant der tschechischen Unabhängigkeit dar. Der slowakische Astronom Milan Rostislav Stefánik organisierte sie in den russischen Kriegsgefangenenenlagern seit Mitte Juni 1916, Masaryk errichtete sie offiziell [Mai 1917] und bereitete ihre Überstellung nach Frankreich vor. Die Werbung erfolgte auch in Italien, Frankreich und den USA, wo ihr mit Zustimmung Wilsons angeblich 10.000 Freiwillige beitraten. Zuerst träumte Beneš von einer 350 000 Mann starken tschechischen Armee (die Zahl betraf die kriegsgefangenen Tschechen in Rußland). Trotz der Probleme bei der Anerkennung dieser Truppe die Italien und Frankreich bereiteten, hoffte Beneš, der Entente im Frühling 191850.000 bis 60.000 Soldaten zur Verfügung stellen zu können.
Der ” Tschechoslowakische Nationalrat” betrachte die künftige Armee als Retter der Nation. Er werde dafür sorgen,”[…]daß sie vom Augenblick ihres Einsatzes an sehr stark, sehr diszipliniert und sehr homogen gegen die Zentralmächte kämpfen wird.”
Die tschechische Nationalbewegung sei ein wichtiger Faktor für die Reorganisation Zentraleuropas. Der Krieg böte den jetzt Unterdrückten die Chance, sich von der Donaumonarchie zu befreien, denn das deutsche Mitteleuropaprogramm gefährde permanent den Weltfrieden. Österreich -Ungarn würde über die Magyaren(“Austro-Magyars”)( sic!) Südslawen und Rumänen beherrschen. “Mit einer Neugestaltung der europäischen Landkarte kann man sich von diesem Herd der Zwietracht, der Österreich -Ungarn ist, entlasten und Deutschland den Weg in den Orient versperren. Der Krieg von 1914 hat kein anderes Ziel.”( Hervorhbg d.d. Vfin.)
Die Alliierten sollten diese Signale verstehen und konsequent ihre legitimen Herrschaftsansprüche und Rechte sichern. Der Pangermanismus bedrohe Frankreichs nationale Existenz, Englands vitalste Interessen und Italiens nationale Entwicklung. Weshalb das Konzept der Tschechen den Interessen der Entente und den Forderungen von Recht und Gerechtigkeit entspräche.
Der präsumptive “Nationalstaat,” die unabhängige Tschechoslowakei, gebildet aus den Kronländern Böhmen, Mähren, österreichisch Schlesien und der Slowakei, umfasse ein Territorium von 140.000 km2 mit 12 Millionen Einwohnern und sei mit seinen reichen Bodenschätzen und Industrien er das Wirtschaftszentrum Europas. Er könnte gemeinsam mit Polen den Weg Deutschlands in den Orient unterbrechen und das Gleichgewicht Zentraleuropas wiederherstellen. Alle Mächte der Entente würden davon profitieren.
Die Reorganisation Zentraleuropas solle durch Blöcke erfolgen, die Österreich -Ungarn als “Rest” der einstigen Donaumonarchie einschlössen und seine Expansion stoppten.[Polnisch- tschechischer Block im Norden, Russisch – rumänischer Block im Osten und Südosten, Balkanblock im Süden].
Zum Schluß diskutierte Beneš das Programm der Donaukonföderation, wie es innerhalb der Entente überlegt wurde. Man beabsichtigte, Österreich- Ungarn von Deutschland zu lösen und zu retten. Nach der raschen Vernichtung Deutschlands sollte die föderalisierte Donaumonarchie zur antipreußischen Barriere in Zentraleuropa werden.
Beneš hielt diesen Plan, weil er angeblich auf irrigen Vermutungen beruhte, für undurchführbar. Österreich würde sich nicht von Deutschland trennen können: der Versuch seiner Föderalisierung verlängere den Krieg, schwäche die Widerstandskraft der Slawen, stärke Österreich und vernichte Bosnien- Herzegowina, Galizien, Kroatien und Siebenbürgen. Nur die Saturierung Rumäniens, Polens und Serbiens sichere einen dauerhaften Frieden. Die Alliierten würden grundlos befürchten, daß bei einer Liquidierung der Habsburgermonarchie Nord- und Südslawen in deutsche Abhängigkeit gerieten. Die Umformung des Habsburgerreiches in eine Donaukonföderation läge nur im Interesse von Katholiken, internationalen Finanzleuten, Aristokraten und Wissenschaftlern. Denn sie alle, Habsburger, deutsch- ungarische Aristokratie, deutsch – ungarische Bürokratie, die katholische Kirche im Dienst einer zentralistischen Staatspolitik und die deutsch -ungarische Armee seien die Feinde der Tschechen. Bei einer Föderalisierung Österreich – Ungarns wären alle großen Opfer vergeblich gewesen, die Tschechen lebten nach wie vor in Sklaverei. Sie hätten, antidynastisch und demokratisch eingestellt, keinen nationalen Adel und keine wichtigen Positionen in Zentralverwaltung und Armee. Zum Dank für ihre Unabhängigkeit würden sie sich mit einem Schlag von der wirtschaftlichen und sozialen Sklaverei Österreich – Ungarns befreien. Die künftige Tschechoslowakei werde als moderne, gemäßigte Demokratie, aus den nationalen Wurzeln ihrer Geschichte leben und republikanisch regiert werden. Die große Revolution der Demokratisierung sei in einer Donaukonföderation nicht zu verwirklichen.
Die Donaukonföderation sei auch für Rumänen und Jugoslawen indiskutabel. Denn die Österreicher im Schlepptau der Pangermanisten würden sich nach dem Friedensschluß an Italien rächen und damit die Südslawen in neue Konflikte verwickeln.
Tusars Memoire läßt erkennen, an welch geheime Dokumente man herangekommen war. Es transportierte Fakten und Klischees der öffentlichen Meinung, die zu Entscheidungsgrundlagen der Entente wurden.
Zuerst verzeichnete dieses Dossier das Bild Kaiser Karls. Tusar schilderte ihn als jung, sympathisch, leutselig und eher gemütlich, militärisch einfach, nicht aktiv, nur reaktiv und – uneingestanden – seiner Umgebung völlig ausgeliefert. Er liebe nur Leute bestimmten Alters. Erfahrene Politiker bestätigten seine Inkompetenz. Nachdem er seine Fehler mit moralischer Unabhängigkeit und brüsker Entscheidung kaschiere, trüge er den Spitznamen “Karl der Plötzliche “. Die Tschechen erblickten in ” Karl dem Neuen (Karel Novak)” den Konkursverwalter des Hauses Österreich. Er umgebe sich mit Männern des Vertrauens von Erzherzog Franz Ferdinand. Vermutlich sehr von Koerber beeinflußt übte Tusar Kritik an Czernin, Berchtold und Hohenlohe.
Karl hätte keine politischen Kompetenzen, ließe sich aber gerne informieren. So habe er die drei tschechischen Abgeordneten Fiedler, Smeral und Stanek empfangen und ihnen aufmerksam zugehört, als sie über die ökonomischen Situation und die sozialen Forderungen der tschechischen Arbeiter sprachen. Trotz gutem Willen und dem Wunsch, mit der Regierung zusammenzuarbeiten, sei seine Schwäche nicht zu übersehen.
Tusar berichtete auch von der Audienz der genannten Abgeordneten bei Czernin am 15. Juli 1917. Man hätte über den Frieden gesprochen. Ein Separatfriede sei undenkbar. Czernin würde Himmel und Erde bewegen, um einen allgemeinen Frieden zu erreichen und dabei Rußland zu schonen. Er hätte versucht, die Abgeordneten, als sie über die Versorgungsschwierigkeiten und Unruhen von Mährisch Ostrau sprachen, zu beruhigen. Sie erwarteten für den Winter 1917/18 neuerliche Erhebungen. Czernin versicherte, der Friedensschluß sei nur mehr eine Frage von Monaten. Auf Lloyd George gestützt, vertrete er die Absicht der Entente, Österreich – Ungarn zu erhalten.
Tusar bezeugte Czernins positive Einstellung zum Kongreß der Sozialistischen Internationale in Stockholm. Er hätte Smeral vor seiner Abreise nach Schweden ersucht, “[…] die ganze Welt von der aufrichtigen Friedensgesinnung Österreich – Ungarns zu überzeugen[…Czernin] sagte, daß der Friede gemacht würde, bevor die USA ihre militärische Macht entwickeln könne, aber in Wirklichkeit hat man vor Amerika Angst[…].” Hunger und Versorgungsprobleme motivierten die Friedensbemühungen. Tusar prophezeite für Frühling 1918 Hungerunruhen, Streiks, steigende Preise, Transportkrisen und Kohlenmangel. Trotz Meutereien und Unruhen stünden keine Revolutionen bevor. Die Bevölkerung sei lethargisch, nicht rebellisch. Die Regierung bemühe sich, die Versorgung zu sichern, um Ruhe zu bewahren. Auf Grund vertraulicher Informationen meinte Tusar, die Monarchie könnte nur mehr ein Jahr Krieg führen. Ähnlich dramatisch beschrieb er Österreich – Ungarns finanzielle Situation. Es steuere dem Bankrott zu. Von Deutschland unterstützt, sei die Zahlungsunfähigkeit im nächsten Jahr zu erwarten. Sie wäre das größte Druckmittel für einen Frieden.
Tusars Beschreibung der militärischen Situation war aktuell. Die russische Ohnmacht hätte das Debakel der k.u.k. Armee gebannt. Jetzt plane man, Italien anzugreifen und verschiebe Truppen aus Galizien an den Isonzo, wo österreichische und deutsche Truppen vermischt würden.(Was unrichtig war.) Tusar betrachtete den Einsatz neuer chemischer Kampfstoffe durch Italiener und Franzosen als Ursache österreichischer Verluste während der 11. Isonzoschlacht:”[…]Die Österreicher haben während der letzten italienischen Offensive schreckliche Verluste gehabt, weil ihnen Gasmasken fehlten. In Österreich existiert nur eine Maskenfabrik (Dittmar in Wien), die täglich 15o Masken herstellen kann, während die Deutschen täglich 50.000 produzieren. Die Deutschen sind ihnen zu spät und nicht effizient zu Hilfe gekommen.[…] [Sie] klagten, daß das von den Franzosen und Italienern eingeführte neue Gas das Gewebe der Masken durchdringe. Jetzt haben sie bessere. Österreich besitzt ungenügend Masken und nur für die italienische Front. An der russischen Front gibt es gar keine und nur so konnte man mit dem Gas die großen Erfolge erringen[…].” In Österreich würde niemand an einen militärischen Sieg glauben. Die einzig Hoffnung sei die Schwäche Rußlands, Frankreichs und Italiens. Wenn sie sich nicht erfülle, sei Österreich – Ungarn besiegt.
Beneš hatte das Memorandum an Sir George Clerc adressiert. Am 25. Oktober 1917 empfing ihn Sir Robert Cecil, damals Blokademinister, zu einem längeren Gespräch. Der Chef der militärischen Informationsmission in Rom, Sir Samuel Hoare, hatte den Kontakt hergestellt. Lord Cecil stand zur tschechischen Nationalbewegung positiv; noch am selben Tag ersuchte er den Außenminister Lord Balfour, sich mit dem Dossier zu befassen. Er schlug vor, Beneš kurz zu empfangen und sich mit der Anerkennung des Tschechischen Nationalrates Frankreich und Italien anzuschließen. Lord Cecil wollte Beneš, der bereits nach Paris abgereist war, bei seiner Wiederkehr nach London sogar eine Audienz bei König Georg V. verschaffen.
Gegenüber Lord Hardinge, damals Unterstaatssekretär, wurde Cecil ausführlicher . Er berichtete vom Besuch Beneš und übersandte auch dessen Memorandum. Natürlich würde Beneš die Wünsche der Tschechen nach Unabhängigkeit und alliierter Unterstützung übertreiben, einige Punkte seines Memoirs wären aber berücksichtigenswert. Denn die Tschechen, anders als die Polen und Südslawen mit ihren internen Differenzen, wären untereinander solidarisch. Die Alliierten könnten ihnen vertrauen. Sie hätten alle Brücken abgebrochen, alle Boote verbrannt. Auch müßte man die tschechischen Massendesertionen berücksichtigen. Frankreich würde die Tschechische Legion anerkennen, Italien fürchte sich davor. Mit Rußland wäre nichts definitiv geregelt, Beneš hoffe aber, auch dort die Tschechische Legion aufzubauen. Er verlange von den britischen Staatsmännern, die jede Anspielung auf eine Zerteilung Österreich- Ungarns vermieden, keine öffentliche Erklärung, ersuche jedoch den berechtigten Wunsch der Tschechen nach Unabhängigkeit im Parlament zu etrwähnen und sie zu ermutigen. Die Südslawen seien mehr als die Polen die eigentlichen Verbündeten der Tschechen, da sie den Zugang zum Meer bei Triest anstrebten.
Lord Hardinge antwortete reserviert: Es wäre schwierig, mehr als den Eindruck von Sympathie mit den tschechischen Aspirationen zu erwecken. Die geographische Lage Böhmens sei ein fast unüberwindliches Hindernis.
Er hatte das handschriftliche Post scriptum Lord Cecils ignoriert, das auf die großen Verpflichtungen gegenüber den amerikanischen Auslandstschechen für Berichterstattung und Sabotage hinwies.
So präsentierte am 10. November 1917 der Sekretär der tschechischen Nationalbewegung in den USA, Emanuel Voska, ein neues Memorandum. Zur Orientierung für den britischen Außenminister Balfour legte auch Voska eine Landkarte bei, die den tschechischen Nationalstaat veranschaulichte. Zuerst dankte er überschwenglich und untertänig für alle den Tschechen erwiesene Hilfe, für die britische Zustimmung im Jänner 1917, die Befreiung der Tschechen zum eigenen Kriegsziel zu erklären. Aus Rußland zurückgekehrt, informierte er über die Tschechische Legion wie über die dortigen Kriegsgefangenen, die begierig und “[…] zu Tausenden den Alliierten ihre Dienste” anböten. Voska wiederholte gekonnt die Argumente und Sprüche von der Einigkeit der tschechischen Nationalbewegung, hob ihren revolutionären Charakter und die Möglichkeiten der Tschechen hervor, Österreich wirtschaftlich, finanziell und militärisch zu lähmen. Abschließend verwies er auf zwei Millionen tschechischer Amerikaner: diese wären davon überzeugt, daß Großbritannien mit den USA die kleinen Nationalitäten im Interesse von Demokratie und gerechten, dauerhaften Friedensbestimmungen vertrete.
Lord Balfour bezeichnete das Memorandum Voskas als interessant und erinnerswert. Er meinte, es könnte nützlich sein, falls das Kriegsministerium, an der rumänischen Front eine tschechische Armee plane. Am 21. November 1917 äußerte er sich in einer Sitzung des britischen Kriegskabinetts zur tschechischen Frage, gab aber im Parlament keine von Beneš gewünschte Erklärung ab. Inzwischen bereitete Lloyd George Friedenssondierungen mit Österreich – Ungarn vor.